Ohne Jill, die eine enge Freundin meiner Mutter ist und dieser versprochen hat, auf mich ein Auge zu haben, hätte ich es niemals geschafft, die heruntergekommene Fabriketage zu dem zu machen, was sie heute ist. Mittlerweile ist Jill zu meiner engsten Vertrauten und besten Freundin avanciert.
Mister Chang scheint ebenfalls vom Charme des Ateliers bezaubert. Er nickt in einem fort. Bereits gestern habe ich bemerkt, das ist ein untrügliches Zeichen seines Wohlwollens. An der rechten Wand stehen Regale mit Stoffen und Kisten, in denen Knöpfe, Bänder und andere Kurzwaren auf ihren Einsatz warten. Links davon öffne ich eine schmale Tür. Das geschäftige Rattern der Nähmaschinen empfängt uns. Ich hebe meine Stimme.
„Dies hier ist unsere Manufaktur , wie Jill sie getauft hat. Wie ich Ihnen gestern bereits erzählt habe, legen wir Wert auf unser handwerkliches Image. Daher auch der Name des Labels Babe in Germany , in Anlehnung an das Qualitätsimage deutscher Wertarbeit.“ An zehn Tischen setzen eifrige Näherinnen die von mir und Jill skizzierten Entwürfe zu Prototypen um.
„Zur Zeit wird hier alles für die Schau in gut drei Wochen vorbereitet.“ Ich gehe zu einer der Näherinnen und hebe ein halbfertiges Abendkleid in die Höhe, dessen cremefarbener Seidenrock bis zur Hälfte mit kleinen schwarzen Glitzersteinen besetzt ist. Freundlich nicke ich meiner Angestellten zu und bedanke mich.
„Wenn die Einzelstücke dann nach den notwendigen Verbesserungen und Änderungen ihre Endfassung gefunden haben und auf der Präsentation Anklang finden, beginnt die Massenproduktion. In Stoßzeiten, wenn wir zum Beispiel bei hohen Bestellungen nach der Schau einen bestimmten Look selbst produzieren, kann der Raum auf bis zu zwanzig Nähtische aufgestockt werden.“ Ich deute auf eine Nische, in der zusammengeklappte Tisch lagern. Zufrieden registriere ich, wie Mister Chang mehrfach kurz nickt.
„Natürlich wird die Ware nicht in Deutschland hergestellt. Aber wir beziehen viele unserer Stoffe von dort. Und, wie gesagt, sind sowohl ich als auch Jill aus Deutschland, sodass wir mit diesem Image überzeugend auftreten.“
Der Rundgang schließt in dem geräumigen Foyer ab.
„Hier findet die jeweilige Präsentation unserer Kollektion statt. Der Raum bietet sich dafür hervorragend an.“ Stolz betrachte ich die weißgetünchte hohe Decke, mit den fabriktypischen Ziegelbögen, die durch Strahler dezent ausgeleuchtet wird.
„Das Foyer bietet locker Platz für einen Laufsteg und etwa einhundert Besucherstühle. Hier wird auch die Schau der neuen Kollektion stattfinden.“
Mittlerweile sind wir wieder im Büro angelangt und Kitty serviert grünen Tee – selbstverständlich aus dem Hause Chang.
Während wir das heiße Getränk schlürfen, gehen wir durch die Zahlen. Als Mister Chang minutenlang in der Bilanz der Vorjahre versinkt und keine Miene verzieht, beiße ich mir vor Ungeduld in die Lippe. Es fällt mir schwer, still zu sein und nicht alles zu erläutern. Zu gerne behalte ich die Kontrolle. Das gibt mir Sicherheit. Ein ums andere Mal legt Jill beruhigend ihre Hand auf meinen Unterarm und lächelt mich zuversichtlich an.
Mister Chang legt die Akte zur Seite und blickt eine Weile stumm auf den geschlossenen Aktendeckel.
Mit Mühe unterdrücke ich ein nervöses Räuspern.
„Miss Sommerfeld. Ich habe nachgedacht.“
„Ach ... ja?“
„Ja, ich muss sagen, der Ausflug in dieses Hafenrestaurant hat mich inspiriert. Das war eine sehr gute Idee von Ihnen. Ich hebe abwartend die Brauen und mache innerlich drei Kreuze, weil uns das Schicksal in das deutsche Restaurant geführt hat.
„Eine Idee hat mir heute Nacht keine Ruhe gelassen. Was spricht dagegen, ihre Kollektion um Dilden für Schwangere zu erweitern?“
Kontrolliert atme ich aus. Wie bitte? Dilden ? Was um alles in der Welt ...? Die einzige Assoziation zu dem mir unbekannten Begriff, die mir in den Sinn kommt, wäre die Mehrzahl von Dildo. Denkt Mister Chang, ich stelle Sextoys her? Für Schwangere? Unsicher blicke ich zu Jill, ob ich mich verhört habe. Jill steht ebenfalls leicht irritiert der Mund offen. Und Jill verliert selten die Contenance.
„Mister Chang. Ich verstehe nicht ganz, was Sie damit meinen?“, frage ich behutsam. Mister Chang scheint von seinem Vorschlag hellauf begeistert. Ungeduldig runzelt er die Stirn.
„Na, Dilden.“
„Ähm?“
„Diese Kleider, die die Bedienungen gestern in dem Restaurant am Hafen anhatten.“ Ein Felsbrocken fällt mir vom Herzen. Gleichzeitig beiße ich mir vor unterdrücktem Lachen in die Wange. Der Druck zu platzen wird größer, als Jill einen Hustenanfall simuliert.
„Spricht etwas gegen die Dilden?“
„Äh, Nein. Im Grunde spricht nichts gegen Dirndl .“ Bewusst deutlich spreche ich das Wort aus. „Das Einzige wäre, es entspricht nicht dem bisherigen Stil von Babe in Germany .“ Mister Chang wartet auf weitere Erklärungen. „Sehen Sie, ich entwerfe Kleidung für die modebewusste, moderne Frau, die auf diese Attribute während ihrer Schwangerschaft nicht verzichten möchte. Ein Dirndl hingegen ist Symbol für ein sehr konservatives, traditionelles Frauenbild. Viele mögen es abstreiten, aber zumindest Frauen tragen Dirndl hauptsächlich, um Männern zu gefallen. Die weiblichen Vorzüge werden hervorgehoben: tiefer Ausschnitt, breite Hüften, schmale Taille...“
„Was ist dagegen einzuwenden? Sind sie etwa eine Emanze ?“ Ich kann ein leises Ächzen nicht zurückhalten und ringe unbewusst meine Hände. Bin ich eine Emanze ? Nur weil meine Mode die weiblichen Reize nicht plakativ unterstreicht? Der Begriff kommt mir so veraltet und überflüssig vor. Schließlich leben wir in einer modernen Welt und die Frauen sind – dank der radikalen Emanzen der Vergangenheit – schon weit gekommen. Ich habe Glück in einer Generation geboren zu sein, in der für Frauen vieles selbstverständlich ist, was es fünfzig Jahre zuvor nicht gewesen ist. Aber ich bin keine Emanze. Wenn ich ehrlich bin, tendiere ich sogar zur hoffnungslosen Romantikerin. Ich sehne mich insgeheim nach einem starken Beschützer, der mir bei schwierigen Entscheidungen im Leben beisteht. Meiner schlechten Erfahrung mit Männern nach, vor allem mit einem Mann, bleibt dies wohl für immer eine Illusion. Einen Helden gäbe es für mich nicht und damit basta. Der Hang zum Träumen hat allerdings nichts mit meinem kreativen Geschmack zu tun. Hier bevorzuge ich klare Formen. Wie soll ich das Mister Chang nur klarmachen, ohne ihn zu verprellen? Während ich mit mir ringe, erkenne ich beim Blick in Mister Changs Augen, dieser rechnet ohnehin nicht mit einer Antwort.
„Sehen Sie, Miss Sommerfeld: Frauen sind bezaubernde Wesen und sollten dies den Männern zeigen dürfen. Das spielt jedoch keine Rolle, denn ich denke da rein geschäftlich. Sie haben die Restaurantchefin gestern gehört. Seit die Bedienung Dilden trägt, sind die Umsätze gestiegen. Ich brauche ein sicheres Konzept, wenn ich investieren soll.“
„Ja, aber...“ Mister Chang hebt die Hand und bittet um Geduld.
„Diese Dilden werden nun einmal in den Köpfen der Leute mit Deutschland assoziiert. Das passt doch hervorragend zu dem Image Ihres Labels.“ Auf die Schnelle fällt mir kein Gegenargument ein, was mich maßlos ärgert. Sonst bin ich immer diejenige, die das letzte – selbstverständlich bessere – Wort hat.
„Miss Sommerfeld. Ich war vor ein paar Wochen in Qingdao auf dem Beer Festival. Das ist ein chinesisches Oktoberfest und sie werden es nicht glauben: es gibt Blasmusik und die Leute tragen bayerische Tracht. Das ist der Renner! Und heute Nacht habe ich mich kundig gemacht. Überall auf der Welt gibt es Oktoberfeste: in den USA, Australien, auch hier in Kanada. In Japan sind die Dilden so angesagt, dass manche Frauen täglich darin herumlaufen. Aber die Japaner waren schon immer etwas verrückt“, grinst er. Dann wird er wieder ernst. „Was also spricht dagegen, es wenigstens zu versuchen?“
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