Krüger wandte sich an Sieber: „Gehen Sie doch gleich einmal bei der Ortsverwaltung vorbei! Wenn die das Haus verkauft hat, könnten im Archiv noch Angaben über die früheren Bewohner vorhanden sein. Auch wenn natürlich kaum zu erwarten ist, dass es sich bei den Opfern um diese handelt. Deren plötzliches Verschwinden wäre bestimmt aufgefallen und entsprechend bekannt im Ort. Danach fragen können Sie ja trotzdem. Aber diskret bitte!“
Sieber nickte. „Bin schon unterwegs!“
Doktor Holoch räusperte sich. „Ich kann hier im Moment nichts mehr tun. Ich fahre dann zurück oder haben Sie noch Fragen, Herr Kommissar?“
Krüger überlegte kurz. „Nein danke, Herr Doktor“, antwortete er. „Ich besuche Sie dann in der Pathologie, wenn Sie die Knochen erhalten und genauer untersucht haben.“ Schließlich wollte er sich nicht vor versammelter Mannschaft blamieren, wenn Holoch ihn wieder einmal mit Fachausdrücken eindeckte.
„Wir könnten jetzt mit der Bergung beginnen“, sagte Rohr. „Es ist alles aufgenommen.“
Krüger nahm es nickend zur Kenntnis. Ihm graute schon vor diesen Ermittlungen. Zeugen zu finden, die bis fünfzig Jahre zurück klare Erinnerungen hatten. Wie groß war die Chance, dass der oder die Täter überhaupt noch am Leben waren?
Er stellte sich vor, dass vielleicht eine Flüchtlingsfamilie hier Zuflucht gesucht hatte, die dann für Plünderer gehalten wurden. Handgranaten waren zu Ende des Krieges in riesigen Mengen vorhanden gewesen. Sie abzuziehen und von außen in einen Raum zu werfen, schaffte ein Kind genauso wie ein Tattergreis.
Trotzdem, ein vierfacher Mord musste untersucht werden. Jemand hatte schließlich den Keller zugeschüttet, also war ein Selbstmord sehr unwahrscheinlich.
Das konnte immerhin ein Ansatz sein. Wer hatte überhaupt Gelegenheit gehabt, dies zu tun, ohne aufzufallen?
Für Matthias Brändle brach an diesem Nachmittag seine Welt zusammen. Sobald Margarethe erfahren hatte, dass vier Skelette, davon zwei Kinder gefunden wurden, begann sie zu packen. „Glaubst du wirklich, ich und die Kinder schlafen auch nur noch eine einzige Nacht in diesem Haus!“, hatte sie ihm weinend erklärt, als er sie mit einem Koffer in der Hand aus dem Schlafzimmer kommen sah.
„Aber das ist doch unser Haus? Der neue Anbau, wo willst du denn hin?“
„Egal, nur weg!“
„Ich kann den Keller zumauern“, schlug er verzweifelt vor.
„Vergiss es, nie im Leben!“
„Was soll ich denn machen?“, fragte er kopfschüttelnd.
„Such uns eine Mietwohnung. Aber nicht hier, am besten in der Stadt, wo uns niemand kennt. Ich wohne mit den Kindern solange bei meinen Eltern.“
„Und ich?“
„Wo du willst. Bei meinen Eltern geht nicht, das weißt du, es wird schon für uns drei eng.“
Matthias antwortete nicht darauf. Etwas unheimlich war das schon, aber deshalb alles aufgeben? Die letzten Jahre hatte er das Gebäude Stück für Stück renoviert, alles, was vom Verdienst übriggeblieben war, steckte in diesem Haus. Der Anbau sollte noch der Höhepunkt werden, fast eine Villa, hatte er immer gescherzt.
Und jetzt! Wer würde ihm die Bude abkaufen, mit dem gruseligen Leichenkeller?
Alles war umsonst gewesen! Die Erkenntnis trieb auch ihm die Tränen in die Augen.
„Ich brauche das Auto“, murmelte Margarethe. „Ich muss ja nun jeden Tag die Kinder in die Schule bringen, bis wir wieder einen festen Wohnsitz haben.“
„Nimm es“, antwortete er gleichgültig. Was scherte er sich überhaupt noch um irgendetwas. Er konnte sich dann gleich ein wenig hinlegen, dachte er. Das Einzige, wonach ihm wirklich zumute war.
***
Am nächsten Tag fand im Präsidium in Freiburg die Einsatzbesprechung statt. Sieber hatte auf der Ortsverwaltung in Hausen doch noch einige Informationen auftreiben können. Das Haus war bis kurz vor Kriegsende an eine Familie Wallner vermietet gewesen. Zugezogen aus Berlin, war in der Akte vermerkt. Die letzte Mietzinszahlung war im April fünfundvierzig geleistet worden, noch in bar an die Ortsverwaltungskasse. „Das war damals so üblich, nicht jeder hatte ein Bankkonto“, führte Sieber aus, was ihm von Polizeirat Vogel ein Stirnrunzeln eintrug. Danach hatte noch jemand handschriftlich vermerkt, Familie verschollen. Die Personalien: Vater Ewald Wallner, Frau Anette, genannt Anne, Töchter, Helene und Hildegard. Die Familie lebte von einer Rente der Kriegsopferversorgung, deshalb war die Miete tiefer als üblich, auch dazu gab es einen Eintrag in der Akte. „Der Archivar der Ortsverwaltung hat mir versprochen, weiterzusuchen“, schloss Sieber seinen Bericht.
Krüger hatte sich schon gestern und die halbe Nacht damit beschäftigt, wie er vorgehen wollte. „Ich denke“, begann er, „dass wir systematisch im Dorf die Senioren befragen, jemand sollte sich doch noch erinnern. An die Familie, diese Wallners. Sicher hat doch jemand als Kind dort gespielt und weiß noch von diesem Keller. Den zuzuschütten, war eine ziemliche Arbeit, hat das eventuell jemand mitbekommen? Damit möchte ich Michélle betrauen. Ich gehe davon aus, dass sich, äh, ältere Herren am ehesten einer jungen Frau öffnen.“
Den Blick, den er dafür von Vogel erhielt, ließ sich nicht so einfach einordnen, er konnte Erstaunen oder Empörung ausdrücken.
„Sie beginnen auf der Ortsverwaltung, Michélle!“, fuhr Krüger ungerührt fort. „Lassen Sie sich eine sortierte Liste der ältesten Einwohner geben, welche Sie dann aufsuchen und befragen können. Viele andere Möglichkeiten sehe ich zurzeit nicht, bis wir Laborergebnisse und die DNA der Opfer haben.
Oder hat jemand einen Vorschlag?“, gab er in die Runde.
Sieber meldete sich. „Wir könnten doch auch in den Archiven der Wehrmacht nachforschen?“
„Ja natürlich, Sie und Grünwald übernehmen das. Mit den anderen Möglichkeiten hatte ich nur die Ermittlungen vor Ort gemeint, die internen Sachen laufen so wie immer“, wehrte Krüger ab.
Krüger wandte sich an Michélle. „Haben Sie irgendwelche Fragen?“
Dazu im Moment noch nicht. Aber ich hätte Sie gerne in einer anderen Sache kurz allein gesprochen, Chef.
„Kommen Sie nach der Besprechung in mein Büro!“
„Und Sie, Herr Polizeirat?“
„Viel Glück, kann ich da nur noch sagen. Da der Fall solange zurückliegt, wird die Öffentlichkeit kaum mit schnellen Ergebnissen rechnen.
Also können wir den Aufwand begrenzen. Wir ermitteln selbstverständlich gründlich, jedoch ohne Eile. Neue Fälle haben jederzeit Vorrang. Nach fünfzig Jahren kommt es auf einen Tag mehr oder weniger schließlich auch nicht mehr an.“
„Das bleibt natürlich unter uns“, fügte Krüger an.
Vogel nickte. „Genauso wie alles andere, was wir hier besprechen!“, ergänzte er laut.
„Natürlich, Herr Polizeirat“, beeilte sich Krüger, zu sagen. Er würde trotzdem nicht auf die Meinung von Elisabeth verzichten. Gerade in einem solch komplizierten Fall. Ob Vogel wirklich nie mit seiner Frau über einen Fall sprach? Es konnte natürlich sein, dass sie davon lieber gar nichts hören wollte.
***
Michélle suchte Krüger am Nachmittag auf, um das angekündigte persönliche Gespräch zu führen. Sie wollte ihn über den Vorfall vom Wochenende informieren. Seit dem gemeinsamen Abendessen im Winter wusste Krüger, dass sie mit Guerin eine Beziehung hatte. Er würde ihr deshalb kaum Vorwürfe machen, dass sie praktisch an einer polizeilichen Befragung in Frankreich teilgenommen hatte, hoffte sie. Dies war eine äußerst heikle Angelegenheit, wie jeder Polizist im Grenzgebiet wusste. Es war ja auch nicht ihre Absicht gewesen, sondern hatte sich eher so ergeben. Die Verantwortung dafür lag überdies klar bei Kommissar Guerin. Und der würde sie bestimmt nicht in Schwierigkeiten bringen. Michélle erinnerte sich noch genau an den Moment, als sie ihn ihrem Chef vorgestellt hatte. Krüger bestand darauf, nichts bemerkt zu haben, was Michélle damals zuerst nicht glauben wollte.
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