Die beiden Kommissare hatten sich zuerst sehr bemüht, ein Gesprächsthema zu finden, das nichts mit dem Beruf zu tun hatte. Kennengelernt hatten sie sich schon früher, der Kontakt war allerdings bis dahin nur dienstlich gewesen.
Ein leidenschaftlich geführtes Kartenspiel brach das Eis. Michélle und Elisabeth verstanden sich auf Anhieb. Sodass sich der Abend schnell zu einem Duell zwischen den Geschlechtern entwickelte. Krüger und Guerin, durch den weiblichen Frontalangriff augenblicklich zum Team zusammengeschweißt, verteidigten sich wacker und konnten ab und zu ein paar Punkte verbuchen. Den Sieg trugen allerdings die Damen davon.
Der Gewinn war natürlich eher symbolisch. Krüger hätte Essen und Getränke ohnehin selbst übernommen. Der größere Erfolg bestand darin, dass man sich echt angefreundet hatte.
Michélle berichte kurz, was am Samstag in Colmar vorgefallen war. Dass das Opfer aus Deutschland stammte und wie ungewöhnlich die Befragung dieser Frau Doktor Nagel verlaufen war.
„Wie geht’s Eric?“, war trotzdem Krügers erste Frage.
Michélle strahlte. „Danke, es geht ihm gut. Er wird einen Antrag auf gemeinsame Ermittlungen stellen. Außerdem fragt er auch ab und zu nach Ihnen. Sie sollten sich wirklich wieder einmal treffen!“
„Dann könnte sich ja bald eine Gelegenheit ergeben“, stellte Krüger fest. „Ich würde mich freuen.“
„Ich werde es ihm gerne ausrichten“, versprach Michélle.
„Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, wie Sie die Ermittlungen im Einzelnen angehen wollen?“, fragte Krüger nach. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr überrumpelt bei der Besprechung. Ich bin wirklich davon überzeugt, dass Sie mehr erfahren können. Nicht bloß, weil Sie eine Frau sind, natürlich“, schwächte er ab. „Die Landbevölkerung tickt auch anders. Ich denke, dass Sie das am besten von allen hier erspüren und sich anpassen können.“
„Auf jeden Fall werde ich es versuchen“, versprach sie. „Auch wenn ich nicht davon überzeugt bin, die Beste zu sein“, antwortete sie verlegen.
„Doch, doch, Sie sind die Beste“, beharrte Krüger. „Höchstens vor einem Umstand muss ich Sie warnen. Das könnte einer dieser Fälle sein, den Sie bis zu Ihrer Pensionierung nicht lösen können.“
Damit entlockte er ihr ein Lächeln.
„Sie reagieren absolut richtig“, stellte er fest. „Es ist wichtig, dass Sie diese Möglichkeit nicht zu schwernehmen. An solchen Geschichten sind schon einige Kollegen zerbrochen, weil sie den ausbleibenden Erfolg mit den Jahren einfach nicht mehr ertragen haben. Vor allem, wenn auch noch Kinder involviert sind. Also zögern Sie nicht, wenn es Ihnen zu viel wird. Sagen Sie es mir, dann übergeben wir die Sache an einen anderen Beamten.“
„In Ordnung, Chef und danke!“
„Viel Glück!“
Krüger griff nach der Abschrift, die sie ihm hingelegt hatte. Dass er dazu gar nichts sagte, fand Michélle sehr beruhigend. Es war richtig gewesen, ihm zu vertrauen.
Sie spürte, dass er ihr mit dieser Aufgabe einen spektakulären Erfolg ermöglichen wollte. Wenn sie den Fall lösen konnte. Wenn es nicht gelang, was eigentlich zu erwarten war, dann würde ihr niemand einen Vorwurf machen.
Sie hatte sich vorgenommen, die Gespräche mit den Zeugen, falls möglich, jeweils direkt aufzunehmen. Dadurch konnte nichts mehr verloren gehen und sie sich in Ruhe darin vertiefen. Krüger oder ein Psychologe, je nachdem, würde ihr bei einer genaueren Analyse helfen können, wenn sie darum bat. Schriftliche Berichte, die sie natürlich trotzdem anfertigen würde, konnten da kaum mithalten.
Oft war es schließlich nur ein Zittern in der Stimme, das verriet, dass etwas nicht stimmte. Manchmal schwadronierte jemand wortreich um ein Thema herum oder versuchte auf andere Art, ein Gespräch von einem bestimmten Punkt wegzubringen. Mehrmals nachfragen, um einen Zeugen wie bei einem Verhör unter Druck zu setzen, dürfte kaum möglich sein.
Die alten Damen, denen sie wohl zwangsläufig begegnen würde, würden sie hochgeschlossen, zurückhaltend erleben, während sie den Herren durchaus auch optisch etwas bieten wollte. Das würde die Bereitschaft, sich mit ihr zu beschäftigen, mit Sicherheit deutlich erhöhen. Weshalb sollte sie das nicht versuchen? Es funktionierte schließlich wohl schon seit ewigen Zeiten. Und außerdem wollte sie sich ja damit weder persönlich bereichern noch jemandem schaden.
So plante sie ihre Strategie in groben Zügen. Für Hintergrundinfos oder weitere Recherchen konnte sie jederzeit auf Sieber und Grünwald zurückgreifen. Wenn jemand noch etwas über die Sache wusste, dann sollte es auch herauszufinden sein. Davon war sie inzwischen überzeugt.
Fraglich erschien ihr eher, dass der oder möglicherweise die Täter, überhaupt noch am Leben waren.
Welche Jahrgänge sollte sie eingrenzen? Alle bis fünfundzwanzig? Das hieße, die jüngsten wären 1944 mindestens neunzehn gewesen. War das schon alt genug, um eine ganze Familie auszulöschen?
Die wären heute bereits siebzig. Dann musste sie alle zwischen aktuell 70 und 100 Jahren befragen. Zwischen 20 und 50 waren Mörder, gemäß Statistik am aktivsten.
Zumindest galt das heute. 1944 hatten die meisten jungen Männer in der Wehrmacht gedient. Sogar hinunter bis sechzehn. Nur die Alten und die nicht Wehrfähigen waren zu Hause.
Man konnte sich damals auch nicht so frei bewegen wie heute. Eine eigene Meinung zu äußern, konnte rasch lebensgefährlich werden. Sogar in privater Umgebung.
Ganz andere Verhältnisse. Was wusste sie darüber?
Eigentlich nicht viel, wenn sie ehrlich war.
Carmela bezog am Montag einen freien Tag. Sie hatte in den zwei letzten Nächten so wenig geschlafen, dass sie beim gemeinsamen Frühstück kaum die Augen offenhalten konnte. Debora kümmerte sich liebevoll um sie, schickte sie jedoch schließlich ins Bett zurück.
Sie schlief zwar ein, aber nach kurzer Zeit schreckte sie immer wieder hoch, weil sie von den Erlebnissen am Samstag träumte. Medikamente hatte sie bislang verweigert, sie dachte, auch so mit der Situation fertigzuwerden.
„Du hast ein klassisches Trauma“, hatte Debora gesagt. „Du brauchst eine Therapie.“
Noch bis letzten Samstag hätte Carmela ihr blindlings vertraut. Inzwischen quälte sie der Gedanke, ob Debora vielleicht doch diese Frau mit Absicht vom Dach gestoßen hatte. Aus blinder Eifersucht.
Carmela hatte sich noch nie Gedanken gemacht, wie lange sie mit Debora zusammenbleiben wollte. Solange es gut funktionierte, weshalb sollte sie sich eine Andere suchen. Oder sie verliebte sich spontan, wie sie es auch schon erlebt hatte. Wenn allerdings Debora schon mordete, bloß um eine mögliche Konkurrentin loszuwerden, was würde denn passieren, wenn sie verlassen wurde?
Vor allem irritierte sie, wie leicht Debora das alles wegsteckte. Sie hatte nur für einige Minuten die Fassung verloren, danach war sie wieder ganz normal.
Heute Morgen hatte sie ihr von einer Handtasche erzählt, die sie am Samstag im Elsass gesehen und unbedingt haben wollte.
Wie konnte sie, wenn sie an dieses Wochenende zurückdachte, auf eine Handtasche kommen?
Verdrängte sie das Geschehene einfach oder war es ihr egal? Oder noch schlimmer: hatte sie erreicht, was sie wollte?
***
Für Guerin begann der Montag mit Sichtung der ersten Ergebnisse der Spurensicherung, Claude kam schon bald darauf bei ihm vorbei, um ihm einen vorläufigen Bericht zu geben.
„Du hast also keine Wespenstiche gefunden“, wiederholte Guerin. „Was bedeutet, dass die Aussage dieser Frau Doktor nicht untermauert wird.“
„Aber es widerspricht ihr auch nicht direkt. Wespen können eine ängstliche Person in Panik versetzen, bevor sie tatsächlich gestochen wird“, wandte Claude ein.
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