In der Region der Medulla oblongata werden viele lebenswichtige und zentrale motorische und sensorische, also für Bewegung und Wahrnehmung wichtige Aufgaben des Körpers geregelt. Dazu gehört auch die Steuerung des Darms, des Herzschlags und der Atmung. An dieser Stelle des Hirnstammes treten sowohl die Nerven aus dem Innenohr ein, als auch das Hörsystem. Störungen in diesem Bereich wirken sich deshalb direkt auf Gleichgewicht und Hörempfinden aus. Auch Gesichtsmuskeln und der Kauvorgang werden hier über sogenannte Moto-Neurone (= „Bewegungsnerven“) koordiniert. Darüber hinaus treten Zahn- und Kiefernerven und der Trigeminusnerv aus der Medulla oblongata aus.
Die Fortsetzung der Medulla oblongata nach oben, zu den restlichen Teilen des Gehirns ist der Pons. Im unteren Teil des Ponses befinden sich viele überkreuz verlaufende Fasern. Unter anderem wird hier die Mimik, also der Gesichtsausdruck und die Nahrungsaufnahme gesteuert.
Das danach folgende Mittelhirn (Mesencephalon) gehört ebenfalls zum Hirnstamm.
An der Grenze zum Großhirn liegt das „Dach“ des Mittelhirns (Tectum mesencephali bzw. Vierhügelplatte). Die beiden oberen paarigen Hügel (die „Colliculi superiores“) spielen eine wichtige Rolle bei reflexgesteuerten und willkürlichen Augenbewegungen. Die beiden unteren ("Colliculi inferiores") tragen zur Funktion des Gehörs bei.
Ebenfalls im Mittelhirndach liegt die Substantia nigra. Diese (durch angelagertes Melanin dunkel gefärbte) Struktur, ist für die Verschaltung von Bewegungsimpulsen und -abläufen zuständig. Hier sorgen die Neurotransmitter GABA und Dopamin für die Weiterleitung der Nervenimpulse.
Von der Medulla oblongata bis zum Zwischenhirn reicht ein ausgedehntes, diffuses Netzwerk von Nervenzellen (Neuronen): die Formatio reticularis oder Retikulärformation (lateinisch formatio = „Gestaltung“, „Bildung“ und reticularis „netzartig“). Diese Netzstruktur besteht aus zu höheren Hirnzentren aufsteigenden Nerven („Afferenzen“) mit sensorischen Funktionen (= „wahrnehmen“) und zum Rückenmark absteigenden Nerven („Efferenzen“) mit motorischen Funktionen (= „steuern“).
Die genaue Funktion der Retikulärformation ist noch nicht abschließend erforscht. Man weiß jedoch, dass sich dort relativ viele, diffus verteilte sogenannte Riesenneurone („giant neurons“) befinden, die eine wichtige Rolle bei einer Schreckreaktion spielen.
Die Formatio reticularis hilft im Zusammenspiel mit anderen Strukturen (z. B. Vestibulariskerne) bei der Kontrolle von Haltung und Bewegung. Sie reagiert dabei auf Impulse aus dem Innenohr und beeinflusst sowohl die Geschwindigkeit als auch die Qualität von Bewegungsabläufen. Störungen in diesem Hirnbereich können sich demnach als unkoordiniert wirkende oder verlangsamte oder ruckartige Bewegungen bemerkbar machen.
Alle Teile, die zusammen den Hirnstamm bilden, liegen beim Menschen wie ein Baumstamm über den unterliegenden Strukturen, so lässt sich auch die Namensgebung erklären.
Manche Autoren ordnen auch noch Teile des Zwischenhirns (Diencephalon) dem Hirnstamm zu ( vgl. Thompson, R. F. 2001 ). Ob diese Zuordnung für das Krankheitsgeschehen der Migräne mit Hirnstammaura relevant ist, geht aus der Fachliteratur nicht hervor oder wurde bisher noch nicht untersucht.
4.2 Pathophysiologie – Wie entsteht die Migräne?
Warum Migräne überhaupt entsteht und warum sie in vielen Fällen besonders schwere Formen annimmt und/oder chronifiziert, konnte bislang noch nicht vollständig erforscht werden. Wie bereits beschrieben gibt es jedoch eindeutige Hinweise auf genetische Faktoren, die zusammen mit bestimmten Umwelteinflüssen und biologischen Besonderheiten das Auftreten von Migräne wahrscheinlich machen.
Mit Hilfe verschiedener Bildgebungsverfahren gewann man in den letzten Jahren einige neue Erkenntnisse. Forscher fanden mehr darüber heraus, was im zentralen Nervensystem während der Migräne vorgeht. So wurden verschiedene strukturelle und funktionelle Veränderungen im Gehirn festgestellt.
Als Schlüsselkomponenten bei der Migräne sieht man heute das trigeminovaskuläre System, das heißt, die beteiligten Strukturen sind diejenigen Teile des Trigeminusnervs, die zum Auge gehören („ophthalmische“ Teile), Bindegewebsschichten, die das gesamte zentrale Nervensystem umschließen („Meningen“ insbesondere die „Dura Mater“, das heißt die äußere harte Hirnhaut), sowie intrakranielle Gefäße. Auch Impulse, die von Nervenzellen im peripheren zum zentralen Nervensystem geleitet werden (sogenannte „Afferenzen“) spielen offenbar eine Rolle.
Inzwischen gilt das Neuropeptid CGRP (Calcitonin Gene Related Peptide) dabei als Schlüsselmediator in der Migräneentstehung. Zusammen mit der Substanz P bewirkt CGRP eine Gefäßerweiterung ("Vasodilatation") der Hirnhautgefäße, den Austritt von Blutflüssigkeit aus den Gefäßen in das umliegende Gewebe ("Plasmaextravasation") und eine Degranulation von Mastzellen, was zu einer Freisetzung entzündungsfördernder („proinflammatorischer“) Mediatoren, wie Histamin und Zytokin, führt ( vgl. Bastian 2019 ).
Diese "neurogene Entzündung" verursacht dann ausstrahlende Schmerzimpulse - den typischen Migränekopfschmerz. Die Schmerzempfindlichkeit steigt derart an, dass jeder Pulsschlag, der über die Blutgefäße übertragen wird, als pulsierender Schmerz empfunden wird.
Auch Östrogen (wichtigstes weibliches Hormon) kann Migräneanfälle auslösen. Ein möglicher Grund dafür, dass Frauen häufiger als Männer unter Migräne leiden. Migränen können ausgelöst werden, wenn der Östrogenspiegel ansteigt oder schwankt. Dies ist zum Beispiel in der Pubertät der Fall. Steigt der Östrogenspiegel an, sind Migräneanfälle bei Mädchen häufiger als bei Jungen zu beobachten.
Viele Frauen leiden kurz vor, während oder kurz nach der Menstruation ebenfalls vermehrt unter Migräne. In den letzten drei Monaten einer Schwangerschaft kommt es in der Regel seltener zu Migräne – vermutlich, weil der Östrogenspiegel relativ stabil ist. Nach der Geburt (wenn der Östrogenspiegel relativ schnell wieder sinkt) gibt es dann wieder häufiger Migräneattacken.
Auch in den Wechseljahren schwankt der Östrogenspiegel mitunter stark. In dieser Lebensphase fällt es dann besonders schwer, die Migräne in den Griff zu bekommen.
4.3 Forscherdebatte
In neueren Fachartikeln und zuletzt auf einer virtuellen Konferenz der European Academy of Neurology im Juni 2021 führte man eine formelle Debatte darüber, ob es Migräne mit Hirnstammaura (Migraine with Brainstem Aura (MBA)) überhaupt gibt oder nicht.
Es entspannen sich Diskussionen darüber, ob die Symptome der Hirnstammaura tatsächlich dem Hirnstamm entspringen, oder ob nicht auch der Kortex dafür verantwortlich sein könnte, wie eine Professorin der Université de Montpellier in Frankreich vermutet. Sie bezweifelt die Existenz der Migräne mit Hirnstammaura, da die einzelnen Symptome auch durch Störungen im Kortex erklärbar seien. Zahlreiche Studien hätten aufgezeigt, dass eine kortikale Dysfunktion die gleichen Symptome hervorrufen kann, die für eine Migräne mit Hirnstammaura charakteristisch sind. Als Beispiele führt sie Sprachstörungen (Dysarthrien) bzw. Doppelbilder (Diplopien) an, die auch durch die Beteiligung des Gyrus precentralis oder des parieto-okzipitalen Kortex verursacht werden können. Patienten mit Hirnstammaura seien zwar real, aber ihre Symptome würden möglicherweise keine Dysfunktion des Hirnstamms widerspiegeln, so die Professorin.
Viele andere Mediziner, die zur Migräne mit Hirnstammaura geforscht haben, argumentieren, dass in der Literatur und in durchgeführten Telefoninterviews definitiv Patienten gefunden wurden, auf die die Diagnosekriterien der ICHD zutreffen. Mithin existiere die Migräne mit Hirnstammaura per definitionem, wenn auch nur in seltenen Fällen. Auch ermittelten dänische Forscher in durchgeführten Telefoninterviews unter 293 Migränebetroffenen mit Aura 2,2% mit den Diagnosekriterien der Migräne mit Hirnstammaura ( vgl. EAN 2021 und Yamani et al 2019 ).
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