An alle mitlesenden Ärzte: Bitte sehen Sie Ihren Patienten diese Art „Notwehr-Maßnahme“ gegebenenfalls nach. Zum Ausgleich gibt es im Serviceteil dieses Buches unter dem PunktPraxisleitfaden für den Medizinbetrieb auch ein paar ähnliche “Tricks“ im Umgang mit „speziellen“ Patienten für Sie.
3 Diagnose
3.1 Diagnosekriterien
Bei der Umstellung der Klassifizierungssysteme (von ICD 10 auf ICD 11) wurden die Diagnosekriterien für die Migräne mit Hirnstammaura leicht angepasst. Eine Unterscheidung von der hemiplegischen oder vestibulären Migräne bzw. vestibulärer Schwindelsymptomatik, die zusammen mit der Migräne auftritt, ist so eindeutiger möglich.
Eine Migräne mit Hirnstammaura wird laut ICHD-3 diagnostiziert, wenn Attacken vorliegen, die
A.die Kriterien für eine klassische Migräne mit Aura (s.u.)
UND
B.zusätzlich folgende Kriterien erfüllen:
1. Aura, bei denen mindestens 2 der folgenden vollständig reversiblen (= zurückgehenden) Hirnstammsymptome vorliegen:
- Sprechstörungen (Dysarthrie)
- Schwindel
- Tinnitus
- Hörminderung
- Doppelbilder (Diplopie)
- Störung der Bewegungskoordination (Ataxie), die nicht auf ein sensibles Defizit zurückzuführen ist
- Bewusstseinsstörung (GCS ≤13 s.u.)
UND
2. Keine motorischen oder retinalen Symptome vorliegen.
Bei der Diagnosestellung sind einige Punkte zu beachten:
1. Es sollte die Abgrenzung einer Dysarthrie von einer Aphasie erfolgen. Dysarthrien sind Beeinträchtigungen des Sprechens aufgrund einer Störung im motorischen System („Sprechstörung“). Aphasien sind multimodale Störungen des Sprachsystems (z.B. Grammatik, Wortwahl). Aphasie ist also eine Störung des Gesamtsystems 'Sprache' („Sprachstörung“) [vgl. Dogil/Mayer 2014].
2. Schwindel beinhaltet nicht „Benommenheit“ und muss von dieser abgegrenzt werden.
3. Eine Hörminderung liegt nicht vor, wenn Patienten von einem „Völlegefühl“ im Ohr berichten.
4. Doppelbilder (=Diplopie) umfasst nicht ein „Verschwommensehen“ (oder schließt dieses aus).
5. Eine Abschätzung der Bewusstseinsstörung nach der Glasgow Coma Scale (GCS) kann bei Erstbefundung (z. B. bei stationärer Aufnahme) erfolgen. Alternativ können eindeutig vom Patienten geschilderte Defizite eine GCS-Einstufung möglich machen.
Glasgow Coma Scale (GCS): Das GCS ist ein Bewertungsschema für Bewusstseins- und Hirnfunktionsstörungen nach einem Schädel-Hirn-Trauma. Anhand von 3 Kriterien (Öffnen der Augen, beste verbale Reaktion, beste motorische Reaktion), für die jeweils Punkte vergeben werden, verschaffen sich Mediziner einen Eindruck von der Bewusstseinslage des Patienten.
Diagnose der Migräne mit Aura
Patienten mit Hirnstammaura weisen fast immer zusätzliche typische Aurasymptome auf.
Die Migräneaura ist ein neurologischer Symptomkomplex, der in der Regel unmittelbar vor einem migränetypischen Kopfschmerz auftritt. Sie kann aber auch nach Beginn der Kopfschmerzphase einsetzen oder sich bis in die Kopfschmerzphase hineinziehen.
Die neueste Klassifizierung der IHS (ICHD-3) beschreibt die Migräne mit Aura als "wiederkehrende, für Minuten anhaltende Attacke mit einseitigen, komplett reversiblen visuellen, sensorischen oder sonstigen Symptomen des Zentralnervensystems, die sich in der Regel allmählich entwickeln und denen in der Regel Kopfschmerzen und damit verbundene Migränesymptome folgen." (IHS / ICHD-3)
Frühere Bezeichnungen dieser Migräneart waren unter anderem „migraine accompagnée“ oder „komplizierte Migräne“.
typische Aurasymptome
Der häufigste Auratyp ist die visuelle Aura. Diese typischen Symptome treten bei mehr als 90% der Patienten zumindest bei einigen Attacken auf. Oftmals beschreiben Patienten diese Symptome als einen sich langsam ausbreitenden, oder nach rechts oder links bewegenden Zickzack-Kreis bzw. Randbereich um einen anvisierten Punkt. Dieser Fixationspunkt wird von Betroffenen häufig als "blinder Fleck" bezeichnet. Mediziner nennen diesen Fleck relatives Skotom (auch teilweiser „Gesichtsfeldausfall“). Fällt das Gesichtsfeld komplett aus, spricht man vom absoluten Skotom (= Erblindung). Manchmal tritt ein Skotom auch plötzlich und ohne andere positive visuelle Phänomene auf. Dann variiert nur die Größe. Bei Kindern und Jugendlichen treten diese Symptome untypischerweise oftmals beidseitig (bilateral) auf.
Weitere Aurasymptome sind Sensibilitätsstörungen, wie nadelstichartige Empfindungsstörungen (Parästhesien), die sich langsam vom Ursprungsort ausbreiten. Diese Missempfindungen wandern häufig durch größere oder kleinere Areale einer Körperhälfte. Auch Gesicht und/oder Zunge oder Mundwinkel können betroffen sein.
seltenere Aurasymptome
Seltenere Aurasymptome sind Sprachstörungen. Wenn sie auftreten, dann sind dies üblicherweise sprachbezogene (aphasische) Störungen, die jedoch meist schwer zu erfassen und diagnostisch einzuordnen sind. Einige Patienten beschreiben diese Störungen auch als „Wortfindungsstörungen“ oder „Hängenbleiben“ bzw. „Stocken“ im Wort oder Satz.
Die verschiedenen Aurasymptome folgen gewöhnlich einer bestimmten Reihenfolge. Meistens beginnend mit visuellen Symptomen, gefolgt von Sensibilitätsstörungen und gegebenenfalls gestörter Sprache (Aphasie). Allerdings sind auch andere Reihenfolgen möglich und dokumentiert.
Für die meisten Aurasymptome beträgt die anerkannte Dauer ca. 60 Minuten. Motorische Symptome dauern häufig länger an.
Diagnostische Kriterien der Migräne mit Aura
Als diagnostische Kriterien der Migräne mit Aura gelten laut IHS / ICHD-3:
Kriterium A: Mindestens zwei Attacken, die das Kriterium B und C erfüllen
Kriterium B: Ein oder mehrere der folgenden vollständig reversiblen Symptome
1. visuell
2. sensorisch
3. Sprechen und/oder Sprache
4. motorisch
5. Hirnstamm
6. retinal
Kriterium C: Mindestens drei der folgenden sechs Merkmale sind erfüllt:
1. wenigstens ein Aurasymptom entwickelt sich allmählich über ≥5 Minuten hinweg
2. zwei oder mehr Aurasymptome treten nach einander auf
3. jedes Aurasymptom hält 5 bis 60 Minuten an
4. mindestens ein Aurasymptom taucht einseitig auf
5. mindestens ein Aurasymptom ist positiv
6. die Aura wird von Kopfschmerz begleitet, oder dieser folgt ihr innerhalb von 60 Minuten
Kriterium D: Nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose.
3.2 Diagnostik
Die Symptome der Hirnstammaura können einige schwerwiegende Krankheitsbilder wie Schlaganfall, Tumore und Infektionen imitieren. Es ist daher wichtig, einen Arzt oder eine Notfallambulanz aufzusuchen, wenn sich die Symptome einer Hirnstammaura zum ersten Mal zeigen oder wenn sich die Schwere und Häufigkeit der Symptome ändert, um solche schwerwiegenden Erkrankungen auszuschließen.
Es gibt keinen Blutwert oder eine typische Erscheinung der Hirnstammaura, die durch bildgebende Verfahren wie Röntgen oder Magnetresonanztomografie (MRT) sichtbar gemacht werden könnten. Die Migräne mit Hirnstammaura kann daher nur als Ausschlussdiagnose nach gründlicher Befragung (Anamnese) und Abklärung von Differenzialdiagnosen (s.u.) gestellt werden. Bei der Ausschlussdiagnostik werden im Allgemeinen folgende diagnostische Verfahren genutzt:
MRT/CT/Angiographie
Eine Bildgebung mit MRT oder Magnetresonanzangiographie (MRA) des Kopfes oder eine Computertomographie (CT)-Angiographie ist jedoch angezeigt, um andere Pathologien, wie Schlaganfall, Gefäßfehlbildungen (atrioventrikuläre Fehlbildung) des Hirnstamms (auch „AV-Missbildungen“) und Tumore auszuschließen.
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