Die hemiplegische Migräne wird aufgrund der genetischen und pathophysiologischen Unterschiede im Vergleich zu einer Migräne mit typischer Aura als separater Untertyp klassifiziert.
Unter FHM wird eine Migräne mit Aura verstanden, die eine motorische Schwäche einschließt. Der Begriff „plegisch“ bedeutet in vielen Sprachen „Lähmung“. Die meisten Attacken sind jedoch von einer „motorischen Schwäche“ gekennzeichnet. Die motorischen Symptome halten normalerweise weniger als 72 Stunden an. Es gibt jedoch einige Fälle, in denen die motorische Schwäche (zumindest abgestuft) über Wochen weiterbesteht.
Genau wie in der symptomatischen Beschreibung der Hirnstammaura, ist es in der Praxis sehr oft schwer, zwischen einer muskulären Schwäche und einem Sensibilitätsverlust (= Wahrnehmungsstörung) zu unterscheiden. Hier ist kommunikatives Geschick der Ärzte gefragt, die die laienhaften Schilderungen ihrer Patienten in entsprechendes „Fachchinesisch“ übersetzen müssen, um diagnostisch besser differenzieren zu können.
In einer dänischen Studie mit 147 Betroffenen mit FHM zeigten 69% während eines hemiplegischen Migräneanfalls auch die Symptome einer basilären Migräne (vgl. Thomsen et al. 2002).
Diagnosekriterien FHM
Die diagnostischen Kriterien der hemiplegischen Migräne gemäß IHS / ICHD-3 sind:
Kriterium A: Attacken erfüllen die Kriterien für eine Migräne mit Aura und Kriterium B unten
Kriterium B: Aura, bei der die beiden untenstehenden Punkte erfüllt sind:
1. Vollständig reversible motorische Schwäche
2. Vollständig reversible visuelle, sensible und/oder sprech-/sprachbezogene Symptome.
Bei der familiären hemiplegischen Migräne (FHM) müssen
1. die vorgenannten Kriterien erfüllt sein und
2. bei wenigstens einem Verwandten I. oder II. Grades müssen ebenfalls Migräneauren mit einer motorischen Schwäche auftreten oder aufgetreten sein.
Genetische Datenlage zur FHM
Fortschritte in der genetischen Datenerhebung erlauben mittlerweile eine genauere Definition der familiären hemiplegischen Migräne: So konnten bereits spezifische genetische Subtypen identifiziert werden: Laut ICDH-3 finden sich bei der FHM des Typs 1 Mutationen im CACNA1A-Gen (Kodierung für einen Kalziumkanal) auf Chromosom 19. Bei der FHM des Typs 2 konnten Mutationen im ATP1A2-Gen (Kodierung für eine K/Na-ATPase, auch: „Natrium-Kalium-Pumpe“) auf Chromosom 1 gefunden werden. Bei der FHM des Typs 3 liegen Mutationen im SCN1A-Gen (Kodierung für einen Natriumkanal) auf Chromosom 2 vor (vgl. Jen et al. 2001).
Auch finden sich sowohl bei der FHM als auch bei klassischer und gewöhnlicher Migräne Mutationen im SLC4A4-Gen, das für einen Natrium-Bikarbonat-Kotransporter kodiert (vgl. Bastian 2019). Möglicherweise existieren aber noch weitere, bislang nicht identifizierte Abschnitte von mutierten Genen.
Die familiäre hemiplegische Migräne wird autosomal-dominant vererbt mit einer Häufigkeit von 1:10.000. Bei der autosomal-dominanten Vererbung wird (unabhängig von den Geschlechtschromosomen) sowohl eine unveränderte Kopie eines Gens als auch eine veränderte weitergegeben. Wenn sich die veränderte Kopie gegenüber der unveränderten durchsetzt, wird sie dieser gegenüber "dominant". In diesem Fall ist die Person von der genetisch bedingten Störung oder Erkrankung betroffen.
FHM und Hirnstammsymptome
Es konnte gezeigt werden, dass bei der familiären hemiplegischen Migräne zusätzlich zu den typischen Aurasymptomen sehr oft Hirnstammsymptome auftreten. Auch Kopfschmerzen kommen praktisch immer vor. In seltenen Fällen sind während einer FHM-Attacke Bewusstseinsstörungen (bis hin zum Koma), Verwirrtheitszustände, Fieber und eine Liquorpleozytose (= erhöhter Zellgehalt bzw. Vermehrung der Granulozyten in der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit (Liquor cerebrospinalis)) zu beobachten.
Die familiäre hemiplegische Migräne wird nicht selten auch mit einer Epilepsie verwechselt. Entsprechende Behandlungsversuche scheitern folgerichtig.
FHM-Typ-1-Attacken können durch (leichte) Schädel-Hirn-Traumen getriggert werden. In ungefähr 50 Prozent der Familien mit FHM tritt unabhängig von den Migräneattacken eine chronische progressive zerebelläre Ataxie auf, das heißt, die normalen Bewegungsabläufe sind dauerhaft und zunehmend gestört (vgl. IHS-ICDH-3).
3.3.2 psychisches Krankheitsgeschehen
Die Abgrenzung zu einem psychogenen Schwindel oder Panikattacken ist für Fachärzte im Normalfall kein Problem, wird jedoch in der (Notfall-)Praxis häufig nicht gewissenhaft vorgenommen. Viele (vor allem weibliche) Betroffene werden deshalb mit psychischen oder psychosomatischen Diagnosen aus den notfallmäßig aufgesuchten Kliniken entlassen, oder gar direkt in die Psychiatrie eingewiesen.
Nicht selten wird erst von den Fachärzten dort festgestellt, dass die Symptome bzw. die Symptomkonstellationen nicht (ausschließlich) psychisch oder psychosomatisch zu erklären sind.
In der Praxis gibt eine gewissenhafte und vorurteilsfreie Anamnese die wichtigsten Eckpunkte der weiteren Diagnostik vor. Wichtig ist, zu verstehen, dass ein Patient mit den Symptomen einer Migräne mit Hirnstammaura sich in einer absoluten Ausnahmesituation befindet – körperlich und mental. Äußerungen von Angst und Panik sind in diesen Fällen keine Symptome einer psychischen Erkrankung oder Überempfindlichkeit, sie sind eine normale Reaktion eines „gesunden“ Bewusstseins auf eine als lebensbedrohlich und existenziell vernichtend empfundene Situation.
Generell ist festzustellen, dass Migräne-Auren die gesamte Palette neurologischer „Spezialeffekte“ abspielen können: Dazu gehören Halluzinationen, abnorme Bewusstseinszustände, Affektänderungen und -störungen, Sinnestrübung und gestörte Wahrnehmung, aber auch motorische Störungen bis hin zu kompletter Lähmung im Rahmen eines Locked-in-Syndroms als Komplikation (siehe Kapitel 5.3).
Wer solche Symptome gelassen und ohne Angst hinnimmt, vor allem, wenn sie erstmals auftreten, kann unter psychologischen Gesichtspunkten durchaus nicht als „der Gesunde“ gelten. Eine stoisch gelassene Haltung in diesen Situationen kann selbst für „alte Migräne-Hasen“ maximal Behandlungsziel sein. Neuerlich Betroffene und ihre Gefühlslagen in dieser Ausnahmesituation sollten immer als solche akzeptiert und ernst genommen, nicht aber psychopathologisiert werden.
Fokusumlenkung
Ganz grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass psychische oder psychosomatische Symptome eher „von außen“ beeinflussbar sind. Vor allem bei „reinen“ Panikattacken kann eine Fokusumlenkung durch ein Gespräch oder anderweitiger Ablenkung gut gelingen. Eine Migräneaura mit Hirnstammbeteiligung ist dagegen fast vollständig immun. Patienten haben keinerlei Möglichkeit, hier bewusst gegenzusteuern oder sich in irgendeiner Form „zusammenzureißen“. Im Gegenteil sorgen solche Bemühungen, die mit hoher Anstrengung und Muskelanspannung verbunden sind, eher noch dafür, dass die Aura-Symptome heftiger werden und/oder länger andauern, da die Durchblutung des Gehirns durch die Muskelanspannung noch weiter gestört wird.
Es ist möglich, dass während oder nach eines Migräneanfalls mit Hirnstammaura die Patienten verstummen oder komplett dissoziieren („abspalten“). Dies ist eine Folge der extremen Belastung (vor allem, wenn die Migräneaura in dieser Form erstmals auftritt oder noch undiagnostiziert ist).
Ein extremer Migräneanfall kann traumatisierend wirken - mit allen hierfür bekannten akuten und/oder langfristigen Symptomen. Auch dies ist kein Zeichen von Charakterschwäche, „Anstellerei“ oder allgemeiner Hypersensitivität. Eine aus einem Trauma entstandene psychische Störung, wie beispielsweise die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), ist dann als Koerkrankung oder Folgeerkrankung der Migräne mit Hirnstammaura einzustufen (siehe Kapitel 6.5) - nicht als Ursache für die Migräne.
Читать дальше