Bei schweren, hochfrequenten Migräneverläufen kommen allerdings signifikant öfter auch Traumafolgestörungen in der Patientengeschichte vor (14-25% der Betroffenen). Dennoch können weder Traumatisierungen noch Traumafolgestörungen als alleinige und zentrale Migräne-Ursache gesehen werden. Über einen möglichen kausalen Zusammenhang ist bisher wenig bekannt. Die Korrelation, das heißt die (evtl. zufällige) Häufung der beiden Erkrankungen gilt jedoch als belegt (vgl. Rech 2020).
3.3.3 Andere Differenzialdiagnosen
Andere Ursachen für Beschwerden, die sich wie eine Migräne mit Hirnstammaura äußern und ausgeschlossen werden sollten sind:
Morbus Menière (ICD-10-GM 2020: H81.0), vestibuläre Erkrankungen (ICD-10-GM 2020: H81.-), vorübergehende ischämische Attacken (TIA) (ICD-10-GM 2020: G45), andere Durchblutungsstörungen des Gehirns (Aneurysma, Dissektionen, Hirnvenenthrombose etc.) und Meningitis (je nach Ursache unterschiedliche ICD-10-Kodierungen).
In der Regel treten Symptome von ischämischen Attacken (TIA) genauso wie von Schlaganfällen und anderen Durchblutungsstörungen des Gehirns, eher plötzlich und unvermittelt innerhalb von Sekunden auf. Migräne-Auren entstehen in den allermeisten Fällen hingegen langsamer, „wandern“ durch den Körper und folgen einer eigenen „Dramaturgie“ bis sie wieder vollständig abklingen.
Auch Tumore verursachen mitunter ähnliche Beschwerden, wie eine Migräne mit Hirnstammaura. Hier jedoch über Wochen und Monate, ggf. schubweise langsam schlimmer werdend.
Untersuchungen der Hörorgane (v. a. Innenohr) können Aufschluss darüber geben, ob ein Morbus Menière oder andere vestibuläre Erkrankungen vorliegen.
Mittels Computertomografie (CT) bzw. CT-Angiografie, Magnetresonanztomografie (MRT) bzw. -angiografie (MRA), kann die Durchblutung und der Zustand des Gehirns überprüft werden, so dass die konsultierten Ärzte damit eine schnelle und treffsichere Aussage über mögliche Differentialdiagnosen tätigen können.
Vor allem eine Abgrenzung zur Epilepsie kann manchmal schwerfallen. Auch das Phänomen der Migrälepsie – eine Art Mischform von Migräne und Epilepsie – kann auftreten. (Mehr dazu im Kapitel 6.2 - Epilepsie als Komorbidität).
Die Abgrenzung zu transitorisch ischämischen Attacken (TIA) wird erleichtert durch die Tatsache, dass Taubheits- und Kribbelgefühle der Zunge, wie sie als sensorische Migräneaura häufig beschrieben werden, praktisch nicht vorkommen, wenn zerebrovaskuläre Störungen, also Störungen der Hirndurchblutung, vorliegen.
Liegen solch eindeutige Symptome nicht vor, ist es wesentlich schwieriger, eine Hirnstammaura von einer transitorisch ischämischen Attacke zu unterscheiden, da auch hier Symptome wie Tinnitus, Schwindel, Sprach- und Sprechstörungen und Doppelbilder vorkommen. Bei der Differenzierung hilft die Tatsache, dass bei Patienten mit basilärer Migräne kaum oder keine Gefäßrisikofaktoren auszumachen sind, sie zwischen 30 und 50 Jahren alt sind und der typische Druck-Kopfschmerz nach den neurologischen Symptomen länger anhält (vgl. Göbel 2012).
Dauern die neurologischen Symptome zusammen mit dem Kopfschmerz länger als eine Woche an, sollte in jedem Fall überprüft werden, ob nicht doch ein migranöser Infarkt vorliegt (mehr dazu im Kapitel 5 / Komplikationen). Es ist dann unumgänglich bildgebende Verfahren, wie MRT und CT hinzuzuziehen, und sich einen Überblick über den Zustand der Gefäße und des Herz-Kreislauf-Systems zu verschaffen.
4 Ursachen
Warum bekommt man Migräne mit Hirnstammaura?
Eine genaue Ätiologie, das heißt, ein zugrunde liegender ursächlicher Zusammenhang der Migräne mit Hirnstammaura ist bis heute nicht bekannt. Wie bei anderen Migränearten auch, spielen nach vorherrschender Lehrmeinung, neben genetischen Vorbedingungen auch individuelle Trigger und Umweltfaktoren eine Rolle.
Laut US-amerikanischem Verzeichnis seltener Erkrankungen vermuten einige Wissenschaftler, dass Nervenanomalien und/oder eine veränderte Durchblutung bestimmter Teile des Gehirns (insbesondere des Hirnstamms und der Okzipitallappen) eine Rolle bei der Entwicklung der Migräne mit Hirnstammaura spielen könnten. Eine genetische Ursache wird ebenfalls von vielen Wissenschaftlern angenommen. Für die Migräne allgemein kennt man heute über 40 Gene, die für ein erhöhtes Migränerisiko verantwortlich sind. Einige Forschungsberichte legen nahe, dass das bei der familiären hemiplegischen Migräne beteiligte Gen auch an der Migräne mit Hirnstammaura (ohne Hemiplegie) beteiligt sein könnte.
In Forschungsarbeiten aus den Jahren 2005 und 2009 wird beschrieben, dass die Anfälligkeit für Migräne mit Hirnstammaura in seltenen Fällen durch eine Mutation des ATP1A2-Gens oder des CACNA1A-Gens begünstigt wird. In diesen Fällen kann die Erkrankung bei mehr als einem Familienmitglied auftreten (vgl. Ambrosini 2005 / Robbins 2009). Eine eindeutige genetische Verknüpfung oder genetische Konstellation konnte bisher jedoch nicht abschließend belegt werden.
Da gemäß ICHD-3 die Migräne mit Hirnstammaura eine Unterart der Migräne mit Aura ist, gehen viele Fachleute davon aus, dass sie das Ergebnis einer kortikalen Ausbreitungsdepression ("spreading depression") ist.
Man kann sich diesen Vorgang wie eine Welle vorstellen, die sich aufgrund der Depolarisation von Nervenzellen (Neuronen und Glia) über die Großhirnrinde ausbreitet. Das heißt vereinfacht: Wird eine Nervenzelle über ein bestimmtes Maß hinaus durch Transmitter gereizt, gerät sie aus ihrem „Normalzustand“ (Ruhepotenzial) in einen „Alarmzustand“ (Aktionspotenzial): Sie depolarisiert.
Die Zelle spult dann eine Art Programm ab (öffnet z. B. bestimmte Ionenkanäle), das ihre Membranen durchlässiger für bestimmte Ionen (= elektrisch geladene Teilchen) macht. Dies startet wiederum neue Reaktionen anderer Nervenzellen.
Bei dieser „Nervenreizung“ gilt das Alles-oder-Nichts-Prinzip, das heißt, es geht erst los, wenn ein bestimmtes Niveau an Reizungsintensität erreicht ist - dann aber in voller Ausprägung.
Es folgt eine länger anhaltende neuronale Untererregbarkeit. Dieser Vorgang ist wahrscheinlich derjenige Mechanismus, der für die Migräne-Aura sorgt, so die Forscher, die sich die Vorgänge während der Migräne näher angeschaut haben.
Im Unterschied zur Migräne mit typischer Aura, bei der nur eine der Hirnhälften betroffen ist, sind bei der Migräne mit Hirnstammaura - wie bereits erwähnt - beide Hirnhälften (Hemisphären) betroffen. Alle Symptome fühlen die Betroffenen dann auch beidseitig im Körper – meist symmetrisch. Es kribbeln dann beide Arme oder Beine, Taubheiten entwickeln sich beidseitig im Gesicht, Sehstörungen betreffen dann beide Augen, was dann bis zu vorrübergehender, vollständiger Blindheit führen kann.
4.1 Anatomie des Hirnstamms
Um zu verstehen, warum Störungen im Bereich des Hirnstamms so weitreichende und verschiedenartige Symptome zur Folge haben können, sollte man sich ein wenig mit der Anatomie und Funktionsweise dieser Gehirnregion befassen.
Betroffenen kann dieses Wissen helfen, besser mit der Angst, die häufig während einer Hirnstammaura auftritt, umzugehen. Es gilt: Wenn ich weiß, was da gerade passiert, ist es nur noch halb so bedrohlich.
Die drei Teile des Hirnstamms
Der Hirnstamm besteht aus drei Teilen: der Medulla oblongata (auch verlängertes Rückenmark genannt), dem Pons (deutsch: „Brücke“) und dem Mesencephalon (Mittelhirn).
Die Medulla oblongata ist der Bereich, in dem alle Nervenstränge vom Rückenmark in das Gehirn eintreten und zum Bestandteil des Gehirns werden. Wo genau das Rückenmark aufhört und die Medulla oblongata anfängt, lässt sich nur schwer genau festlegen. Es ist ein fließender Übergang. Die meisten Mediziner setzen die Grenze direkt hinter dem Kleinhirn. In ihrem Verlauf „spannt“ sich die Medulla oblongata rautenförmig auf. Man nennt diesen Bereich deshalb auch Rautenhirn oder Rhombencephalon.
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