August blickte Frau Stein zornig an und gab keine Antwort. Sie schüttelte ihn heftig und wiederholte ihre Frage.
„Das geht Sie nichts an, alte Hexe!“ rief er endlich, „ich kann mein Geld herhaben, wo ich will!“
„So? Das wollen wir einmal sehen, du abscheulicher Schlingel. Jetzt kommst du mit auf die Polizei, da wollen wir einmal sehen, ob du so frech bleiben wirst. – Geben Sie acht auf meine Bäume,“ rief sie im Fortgehen ihrer Nachbarin zu, „und wenn meine Schwestertochter kommt, soll sie warten, bis ich wiederkomme.“
Als der Bösewicht merkte, daß es keine leere Drohung war und daß er wirklich fortgebracht werden sollte, legte et sich aufs Bitten.
„Liebste, beste Frau,“ rief er ängstlich, „lassen Sie mich los! Ich habe ja wahrhaftig niemand etwas genommen,“ log er frech und fing an, jämmerlich zu weinen. „Das Geld habe ich aus meiner Sparbüchse genommen, meine Patin hat es mir zum Geburtstage geschenkt. Sie können es glauben.“
Vielleicht hätte Frau Stein den Jungen laufen lassen, aber er sah so falsch und lügenhaft aus, und eine innere Stimme rief ihr zu: tue es nicht.
„Na,“ sagte sie, „das kannst du auf der Polizei alles sagen, und wenn es die Wahrheit ist, so werden sie dich schon wieder laufen lassen. Nun sträube dich aber nicht länger, komm ruhig mit. Wenn du ein reines Gewissen hast, brauchst du keine Furcht zu haben.“
Er bat sie himmelhoch, es half ihm nichts, – dann schrie und tobte er aufs fürchterlichste – vergebens, zuletzt blieb er stehen und wollte keinen Schritt weiter tun; Frau Stein mußte alle Kräfte anwenden, um ihn von der Stelle zu ziehen. Zum guten Glück kam ein Schutzmann des Wegs daher, sie rief ihn herbei, ihr zu helfen. August schlug mit Händen und Füßen um sich, als er ihn ergreifen wollte. Der machte indes keine Umstände, erst gab er ihm einige tüchtige Hiebe, dann faßte er ihn fest und führte ihn fort.
In dem Augenblick, als Frau Braun mit Lenchen das Wachlokal verlassen wollte, langte der Schutzmann mit August und Frau Stein an. Letztere erkannte sofort die unglückliche Mutter und trat rasch auf sie zu.
„Ist das Ihre Kleine?“ fragte sie, indem sie dem immer noch aufschluchzenden Kinde unter das Kinn faßte und seinen Kopf emporhielt.
„Laß dir einmal in das Gesicht sehen, Mädchen,“ fuhr sie freundlich fort, – „ja, wahrhaftig, ich irre mich nicht! Du warst heute gegen Abend mit einem langen, magern Herrn bei mir, der kaufte den Baum da,“ – sie zeigte lebhaft auf denselben hin, „und du solltest ihn nach Hause tragen, nicht wahr?“
Lenchen nickte stumm und sah die Frau schüchtern an.
„Du lieber Gott!“ rief dieselbe aus, „wie sieht das Mädchen aus!“ und mitleidig strich sie mit ihrer rauhen Hand des Kindes vom Weinen ausgeschwollenes Gesicht.
Bei ihren Worten, die der Wachtmeister aufmerksam mit angehört hatte, schwand auch der letzte Zweifel in seinem Herzen. Die Tanne hatte sie nicht genommen, – das hörte er aus der Verkäuferin Munde, – nun aber der Geldbeutel! Von diesem Verdacht konnte er das Kind vorläufig nicht reinigen.
„Sind Sie Ihrer Sache gewiß?“ fragte er Frau Stein.
„Ich kann es beschwören,“ sagte sie mit Eifer.
Nun schrieb er wieder alles auf, was sie ausführlich erzählte.
„Sie können jetzt nach Hause gehen,“ wandte er sich an Frau Braun. „Sie werden über die andere Sache Bescheid in Ihrer Wohnung bekommen.“
Sie tat, wie ihr geheißen und entfernte sich mit Lenchen an der Hand. Den Baum trug sie selbst, das Kind hätte denselben auch nicht mehr fortbringen können. Still ging es neben der Mutter her und alles, was es sah und hörte, war ihm wie ein Traum. Der Kopf brannte ihm wie Feuer und trotzdem mußte es sich unaufhörlich vor Frost schütteln.
„Ich kann nicht weiter, Mutter,“ sagte es leise, „meine Beine sind so schwer.“
„Gleich sind wir zu Hause, Kind,“ tröstete die Frau, „und dann legst du dich ins Bett. Du frierst wohl recht?“
„Ich weiß nicht, – aber es dreht sich alles so im Kreise – halte mich, Mutter – Mutter!“
Die letzten Worte hatte sie angstvoll herausgeschrien, und ehe noch Frau Braun zugreifen konnte, war sie zur Erde niedergefallen. Vergeblich bemühte sich die Frau, Lenchen aufzurichten, es war unmöglich. Starr und steif lag sie da, und mit den Augen sah sie die Mutter groß und fremd an.
Mehrere Leute traten hinzu, neugierig schauten sie auf Lenchen, aber sie halfen nicht. Da kam ein Droschkenkutscher langsam dahergefahren, er hielt an, als er den Auflauf von Menschen sah und fragte, was es gäbe. „Ein krankes Kind!“ rief man ihm zu, – da stieg der mitleidige Mann herab von seinem Bocke und trug das Kind, ohne viel Worte zu machen, in den leeren Wagen, Frau Braun mußte natürlich auch mit hineinsteigen.
„Die Tanne nehme ich auf den Bock!“ rief er der geängstigten Frau zu, „und nun, wohin geht es?“
Sie nannte ihm Straße und Hausnummer, – in wenigen Minuten waren sie angelangt.
Es war ein Glück, denn Lenchen war aus ihrer Starrheit erwacht und lag nun im heftigsten Fieber.
Die Mutter trug sie mit Mühe die Treppen hinauf, entkleidete sie und legte sie ins Bett. Aber das Kind wollte nicht darin bleiben, immer wieder sprang es empor und mit Todesangst rief es: “Ich will nicht ins Gefängnis, – ich habe nichts gestohlen, bringt mich zu meiner Mutter!“
Verzweifelnd rang die Frau die Hände, sie wußte nicht, was sie beginnen sollte. Sie versuchte, Lenchen in Ruhe zuzusprechen, das half nichts, sie kannte die Mutter nicht mehr.
„Lieber Gott, was fange ich an?“ rief sie aus, „mein Kind stirbt, und ich kann ihm nicht helfen!“
Da öffnete sich plötzlich die Tür und Karoline trat ein. Sie wollte nach Karlchen sehen, wie sie es Frau Braun versprochen hatte. Unten im dunklen Hausflur wäre sie beinahe über den Weihnachtsbaum gefallen, der Droschkenkutscher hatte denselben dorthin gestellt, die Frau in ihrer Todesangst hatte gar nicht weiter darauf geachtet.
„O Karoline,“ rief sie derselben entgegen, „Sie schickt der liebe Gott! Sehen Sie hier mein Lenchen!“
Die Köchin blickte auf das todkranke Kind. „Du mein Himmel, was ist denn da vorgefallen?“ fragte sie erschrocken. Aber so gern sie auch alles ganz genau gewußt hätte, sie wartete keine Antwort ab, sah sie doch, daß hier schnelle Hilfe not tat.
„Wir wollen nasse Umschläge machen,“ riet sie und holte Wasser und Tücher herbei.
Das Kind hatte etwas Linderung davon, aber nicht lange, dann tobte und fieberte es noch heftiger.
„Ich werde den Arzt holen,“ sagte Karoline und stieg so schnell sie konnte die Treppe hinunter, ergriff im Hause den Baum und trug denselben hinauf in ihre Wohnung. Fräulein Käthchen stand auch richtig schon wartend in der Küche. „Endlich ist der Baum da!“ rief sie. „Nun ist es bald zehn Uhr!“
„Ach, Fräulein, das ist ein Unglücksbaum,“ erwiderte Karoline und berichtete in aller Eile von dem kranken Kinde. „Es muß ihm etwas Schreckliches begegnet sein, das Kind liegt im furchtbarsten Fieber und schreit immer,›ich will nicht ins Gefängnis!‹ Sie sollen sehen, das Mädchen stirbt. – Ich will nur gleich zu unsrem Arzt laufen, die arme Frau ist ganz allein und kann das Kind nicht verlassen.“
„Schnell, schnell, Karoline – eilen Sie, was Sie können,“ sprach Käthchen, die mit der innigsten Teilnahme zugehört hatte, – „bitten Sie den Arzt in meinem Namen, er möge gleich – ja gleich kommen!“
Karoline eilte hinweg, und Käthchen trat in das Wohnzimmer zurück, wo ihr Vater und Bräutigam – die Mutter hatte sie schon früh verloren – an dem mit Silbergeschirr reichgedeckten Teetisch saßen.
Wie herrlich war es in diesem Raum, der tageshell durch eine reiche Gaskrone erleuchtet war. Schwere Vorhänge ließen auch nicht den kleinsten Luftzug hindurch – ein kostbarer Teppich bedeckte den Boden. Sofas, Lederstühle und kleine reizende Sessel, mit rotem Samt überzogen, standen geschmackvoll geordnet umher, Bilder und Vasen schmückten die Wände. Maiblumen, Hyazinthen, Veilchen und Krokus standen zwischen hohen Blattpflanzen in einem vergoldeten Blumentische und verbreiteten den lieblichsten Frühlingsduft.
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