Verschiedene Autoren
Weihnachtsmärchenwald
Weihnachtsmärchenwald
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Impressum
Texte: © Copyright by Verschiedene Autoren
Umschlag: © Copyright by Walter Brendel
Verlag: Das historische Buch, 2021
Mail: walterbrendel@mail.de
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Berlin
Inhalt
Lenchen Braun von Emmy von Rhoden
Die Silvesterglocken von Charles Dickens
Wie der alte Christian Weihnachten feierte von Paula Dehmel
Das Weihnachtsland von Heinrich Seidel
Das Paradies von Carl von Ossietzky
Die Geschichte von der Frau Holle von Luise Büchner
Die große Weihnachtskälte von Jules Verne
Der kleine Tannenbaum von Manfred Kyber
Weihnachten 1830 von Peter Rosegger
Eine Weihnachtsgeschichte von Heinrich Seidel
Der Tannenbaum von Hans Christian Andersen
Ein Weihnachtsmärchen von Heinrich Seidel
Die Weihnachtswiese von Gerdt von Bassewitz
Der Schneemann von Manfred Kyber
Die Schlittenfahrt auf der Milchstraße von Gerdt von Bassewitz
Die Christblume von Paula Dehmel
Christbaum und Hochzeit von Fjodor Dostojewski
Der Stern der Mitte von Paula Dehmel
Bei den Aussätzigen von Karl May
Waldweihnacht von Agnes Günther
Vom Feuermännchen und der Maus Grisegrau von Paula Dehmel
Ein Weihnachtsengel von Walter Benjamin
Unter gutem Stern von Wilhelm Fischer
Ein Weihnachtslied in Prosa von Charles Dickens
Zwölf mit der Post von Hans Christian Andersen
Weihnachten in der Speisekammer von Paula Dehmel
Der Traum der alten Eiche von Hans Christian Andersen
Der Schneesturm von Alexander Sergejewitsch Puschkin
Der Schneemann von Hans Christian Andersen
Das Weihnachtsfest von Carl Hauptmann
Das Wintersonnenmärchen von Otto Ernst
Einsam am Heiligen Abend von Hermann Bang
Unter dem Tannenbaum von Theodor Storm
Weihnachten in Cochinchina von Joseph Roth
Das vertauschte Weihnachtskind von Victor Bluethgen
Weihnachtsmärchen von Guy de Maupassant
Bergkristall (Die heilige Nacht) von Adalbert Stifter
Wie Franischko seine Weihnachten feierte von Fritz Mauthner
Das kalte Herz von Wilhelm Hauff
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Hans Christian Andersen
Lenchen Braun von Emmy von Rhoden
Es war bitter kalt draußen. Schnee und Wind führten einen lustigen Tanz zusammen auf, und wirbelnd drehten sich die feinen, weißen Flocken in tollem Kreise. Trotzdem war es sehr belebt in den Hauptstraßen der Großstadt. Das liebe Christfest war ja vor der Tür, und die Leute, die sonst sicherlich daheim im warmen Zimmer geblieben wären, drängten in geschäftiger Eile aneinander vorüber.
Das war ein Wogen in den Straßen! Mädchen, mit schweren Körben beladen, folgten ihren Damen, die hier und dort noch an einem Schaufenster stehenblieben, oft auch in den hellerleuchteten Laden eintraten, um dies oder jenes Spielzeug für die kleinen Lieblinge daheim mitzunehmen. Packträger, mit mächtigen Weihnachtsbäumen beladen, brachen sich mühsam Bahn durch das Menschengewühl. An den Straßenecken standen Frauen mit großen Körben, worin sie Puppen, – fertig angekleidete Puppen, – für fünfzig Pfennig feilhielten und den Vorübergehenden laut anpriesen; dazwischen hörte man dünne Kinderstimmen „Schäfchen! Schäfchen!“ ausrufen. Vor dem glänzend erleuchteten Schaufenster eines Spielzeugladens, in welchem die herrlichsten Sachen verlockend ausgebreitet lagen, standen zwei ärmlich gekleidete Kinder. Das ältere, ein Mädchen von zehn Jahren, trug ein dünnes Kattunkleid und darüber eine wollene Jacke, die zwar nicht zerrissen, aber doch recht dünn und fadenscheinig war. Der kleine Knabe, den sie an der Hand hielt, mochte wenig über vier Jahre zählen, auch er war nett und reinlich, aber viel zu leicht für den kalten Wintertag gekleidet. Seine Händchen sahen rot und blau aus von der Kälte, die Füße staken nur in leichten Lederstiefeln, und unermüdlich trippelte er von einem auf den andern. Aber die Kleinen merkten nichts von Kälte und Schnee; ganz verloren in den Anblick all dieser herrlichen Sachen, die hier vor ihren Augen ausgebaut waren, standen sie da.
„Du, Lene,“ sagte der Kleine, „weißt du, wenn ich einmal reich bin, dann kaufe ich mir den Nußknacker da, – siehst du, den da mit der roten Mütze und den schwarzen Augen, – und dann knacke ich viele, viele Nüsse! Für dich, für mich und für die Mutter auch. Und die Soldaten, Lene, die kaufe ich auch. Dann spielen wir damit, nicht, Lene?“
Lenchen hörte nur mit halbem Ohre, ihre ganze Aufmerksamkeit war auf eine wundervolle Puppe gerichtet. So schön hatte sie noch niemals eine gesehen. Als ob sie lebte und eben sprechen wollte, so hielt sie das Köpfchen mit den blonden Haarzöpfen etwas zur Seite gewandt. Die Lippen waren halb geöffnet und zeigten wirkliche, wahrhaftige Zähnchen. Und nun dieser Anzug! Ein rosaseidenes Kleid mit langer Schleppe, dazu ein weißes Mäntelchen, ein weißer, entzückender Strohhut ganz kokett zurückgesetzt – und in der Hand einen allerliebsten aufgespannten Sonnenschirm von weißer Seide mit Spitzen besetzt.
„Karl,“ rief Lenchen ganz entzückt, „sieh diese Puppe!“
„Die kaufe ich dir auch, wenn ich reich bin, und noch viel, viel mehr,“ sagte der Kleine.
„Du reich!“ Und Lenchen lachte herzlich, als sie diese Worte ausrief: „Du reich! Ja, wo willst du es denn herkriegen? Wir sind einmal arm, und die schönen Spielsachen dort sind nur für die reichen und vornehmen Kinder.“
„Ich will aber reich werden!“ rief der Kleine. „Tausend Mark will ich haben und dann kaufe ich den ganzen Laden voll Spielsachen!“
„Tausend Mark!“ wiederholte Lenchen, und bei dem Gedanken an diese, für sie unerhört große Summe lachte sie wieder fröhlich aus. „Ach, Karlchen, so viel Geld werden wir niemals haben, – dann wären wir ja reich! – Nun aber komm, wir haben die schönen Sachen genug besehen, jetzt wollen wir nach Hause gehen. Die Mutter wartet.“
Karl riß sich schwer von dem verlockenden Anblick los, aber Lenchen nahm ihn an der Hand und führte ihn fort. Nun die herrlichen Sachen seinen Augen entschwanden, fing der Kleine an zu frieren.
„Es ist so kalt,“ jammerte er. „Au, au, meine Hände!“
„Sei nur ruhig, Karl, wir sind bald zu Hause,“ tröstete das Mädchen, „und dann bekommst du Kaffee, schönen, heißen Kaffee.“
„Und Butterbrot, nicht, Lene?“ Diese verlockende Aussicht ließ ihn auch wirklich für wenige Augenblicke die bittere Kälte vergessen. Aber der Wind trieb ihm den feinen Schnee in die Augen, und er fing von neuem an bitterlich zu weinen.
„Meine Füße sind so kalt,“ klagte er, „und der alte, böse Wind weht mir die Augen zu.“
„Warte, du garstiger Wind, du sollst meinem Karlchen den Schnee nicht mehr in die Augen blasen,“ scherzte Lenchen und band schnell ihre Schürze ab. „So, nun hast du einen Schleier vor,“ fuhr sie lustig fort, indem sie dem Knaben ihre Schürze an seiner Mütze befestigte, „nun bist du eine vornehme Dame, nicht, Karlchen?“
„Ich kann nicht sehen, du hast mir die Augen zugebunden. Ich weiß nicht, wo ich bin,“ rief Karl ungeduldig.
„Komm, gib mir deine Hand. So, nun führe ich dich,“ beruhigte sie ihn. „Jetzt bist du der alte, blinde Mann, dem wir vorhin begegneten, und ich bin deine Frau.“
„Der alte Leierkastenmann?“ fragte der Kleine und mußte über Lenchens Einfall lachen.
Mit rührender Vorsicht führte das Mädchen sein Brüderchen Straße auf, Straße ab. Obgleich es selbst tüchtig fror, wurde es nicht müde, ihm allerhand lustige Dinge vorzuplaudern.
„Nun zähle einmal: eins, zwei, drei,“ sagte es plötzlich, „und wir sind zu Hause.“
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