„Mutter!“ schrie sie außer sich, – „du kannst mich fragen? Denkst du denn auch, daß ich gestohlen habe? O, nun komme ich ins Gefängnis, – nun schleppen sie mich fort!“
Mehr als alle Beteuerungen es getan haben würden, überzeugte Lenchens verzweifelter Ausruf die Mutter von ihrer Unschuld. Sie nahm das furchtbar geängstigte Kind in den Arm und liebkoste es, und mit vor Tränen erstickter Stimme sprach sie ihm tröstend zu.
„Nein, nein, du hast es nicht getan – ich glaube dir. Ich weiß, mein Lenchen würde eher verhungern, als daß sie einen Pfennig nähme.“ –
„Da soll einer klug daraus werden,“ unterbrach der Wachtmeister diese rührende Szene. „So etwas ist mir ja in meinem Leben noch nicht vorgekommen! Ist denn das Mädchen so verstockt, daß es die Wahrheit durchaus nicht sagen will?“
„Es sagt die Wahrheit,“ erwiderte Frau Braun und versuchte die Tränen zu trocknen, die immer von neuem hervorbrachen; „es hat noch niemals gelogen. Ich bin eine arme Frau, Herr Wachtmeister, aber ich halte meine Kinder streng zu allem Guten an. Gott weiß, wie der Geldbeutel in ihre Tasche kam, genommen hat sie ihn nicht.“
Der Wachtmeister war im Herzen selbst davon überzeugt, aber er durfte es nicht eingestehen. War nicht der Schein gegen Lenchen?
„Sie hatte auch Geld in ihrer Tasche, – dreißig Pfennig waren es wohl, – wissen Sie darüber Auskunft zu geben?“
„Das war ihr Botenlohn für den Baum, der hier steht!“ rief sie schnell und ein Schimmer von Freude flog über ihr blasses Gesicht. „Herr Geheimrat Falk kann es bezeugen, er hat ihn gekauft und sie sollte ihn nach Haus tragen.“
Der Wachtmeister machte erstaunte Augen, – hatte das Kind, als es nach dem Gelde gefragt wurde, nicht auch von einem ›Geheimrat‹ gestammelt? Die Aussagen der Mutter stimmten ja damit überein, und doch, konnten sich die beiden nicht darüber verabredet haben?
„So hat sie die Tanne nicht genommen?“ fragte er, und es blitzte freudig aus in seinen grauen Augen.
„Nimmermehr!“ rief Frau Braun.
Frau Braun mußte ihre Aussagen wiederholen, und er schrieb alles genau auf. Auch Wohnung und Namen wollte er von ihr wissen. Sie nannte ihm beides, und während er Frage auf Frage an sie richtete, kehren wir noch einmal zu Frau Stein zurück.
Die gute Alte hatte eben drei Tannen auf einmal verkauft und vergnügt über ihr gutes Geschäft setzte sie sich wieder auf ihren Platz. Vorher aber nahm sie erst den Kessel vom Kohlenbecken und trank recht behaglich ein Täßchen ›Heißen‹, wie sie zu sagen pflegte.
Als sie nun so still dasaß, kehrten ihre Gedanken wieder zu der unglücklichen Frau zurück, und sie hätte etwas dafür gegeben, wenn sie gleich gewußt hätte, was aus derselben geworden.
Ihr gegenüber stand eine Pfefferkuchenbude. Herrliche Sachen wurden dort feilgeboten, – Süßigkeiten aller Art waren kunstvoll aufgebaut und ausgebreitet und lockten groß und klein zum Kaufen an.
Zwei Jungen hatten schon seit einer kleinen Weile dicht vor Frau Stein sich aufgepflanzt und warfen sehnsüchtige Blicke zu der mit Gasflammen hell erleuchteten Bude hinüber.
„Du,“ hörte Frau Stein den älteren sagen, – es war ein schlechtgekleideter Bube von fünfzehn Jahren vielleicht, – „du, August, nun mache endlich und besinne dich nicht ewig. Kaufe der da drüben etwas ab – sieh, die hat schöne Sachen! Donnerwetter, sind das große Pfefferkuchen! Mir läuft das Wasser im Munde zusammen, wenn ich sie nur ansehe.“
Gierig blickte er hinüber und zog den andern vorwärts, als er diese Worte sagte, dabei schnalzte er förmlich mit der Zunge. „Aber Süßigkeiten und Schokolade mußt du auch kaufen, die esse ich so gern! Nun aber mach,“ fuhr er ungeduldig fort, als der andere noch immer zögerte, und versetzte demselben einen kleinen Stoß in die Seite – „ich will nicht mehr warten!“
Wer meint ihr wohl, daß dieser andere Knabe war? Blond und blauäugig sah er aus, auch war er nett und sauber gekleidet. Nun wißt ihr schon, daß August niemand anders war, als der böse, böse Junge, der dem armen Lenchen so viel Herzeleid bereitete. Der schlecht gekleidete, schmutzige Knabe war ein guter Freund von ihm, der ihn zu manchem bösen Streich verführte. August hatte ihn geholt und ihm mit Freuden seinen Diebstahl mitgeteilt. Jetzt waren sie dabei, das gestohlene Geld zu vernaschen.
Sie waren beide an die Bude getreten und kauften ein. Von allem verlangten sie, und der zweite Knabe, Ludwig, konnte nicht genug bekommen.
„Nun noch Schokolade,“ sagte er und nahm einige Tafeln, die er zu dem schon großen Pakete legte – „und schließlich noch diese Zuckerzigarren“ – dabei steckte er gleich eine in den Mund und tat, als ob er rauche.
Die Honigkuchenfrau packte alles zusammen und August griff in die Tasche, um zu bezahlen. Frau Stein konnte deutlich erkennen, daß er ein Goldstück hinreichte. Hatte es schon ihre Verwunderung erregt, daß die beiden Jungen so viel Näschereien einkauften, so war sie noch weit mehr erstaunt, als sie das Goldstück erblickte.
„Wie kommt der Junge zu dem vielen Gelde?“ dachte sie. Vielleicht wunderte sich auch die Honigkuchenfrau darüber, aber sie sagte nichts. Sie steckte das Goldstück ruhig ein und gab das übrige Geld daraus heraus. Die Jungen nahmen ihr großes Paket und verließen eilig die Bude.
„Nun teile, jeder die Hälfte!“ hörte Frau Stein den Großen sagen, als sie kaum zwei Schritte gegangen waren.
„Die Hälfte,“ tief August, „du bist wohl toll, Ludwig! Da, hier,“ sagte er und reichte ihm einige Stück, „das bekommst du, mehr gebe ich dir nicht.“
„Was, mit diesen paar lumpigen Bissen willst du mich abfinden? So kommst du mir nicht fort! Die Hälfte her, oder ich haue dich durch!“
August nahm einen Anlauf und wollte davonspringen. Kaum hatte er einige Schritte getan, so packte ihn Ludwig fest am Arm.
„Warte du,“ schrie er wütend, „auskratzen willst du mir! Das sollst du büßen.“
Rechts und links flogen die Ohrfeigen, August schlug wieder, aber, o weh! Dabei entfiel ihm sein Paket, das er unter dem Arme gehalten, und all die herrlichen Süßigkeiten kollerten in den Schnee.
Aber auch die beiden Jungen lagen auf der Erde und rauften und balgten sich, wie es eben nur so ungezogene Straßenbuben tun können. Sie merkten auch gar nicht, wie sie sich auf dem Honigkuchen herumwälzten, wie Zuckerzigarren und Schokolade und noch viele andere Sachen im Schnee und Schmutz umkamen und verdarben.
„Laß mich los!“ schrie August, als Ludwig ihn in den Haaren gepackt hatte, „laß mich los!“ dabei kratzte er ihm ins Gesicht, daß dieser vor Schmerz aufschrie.
„Du Spitzbube willst mich kratzen? Du erbärmlicher Dieb, du!“ Dabei versetzte er August Stöße und Püffe nach Herzenslust. „Jetzt gehe ich zur Polizei und sage, daß du gestohlen hast! Warte, das soll dir schlecht bekommen!“
Frau Stein hatte die Jungen nicht aus den Augen verloren. Sie hatte mit angehört, wie sie zankten, und als sie sich prügelten, war sie ruhig sitzengeblieben. Sie mochte sich nicht dazwischen mischen, die bösen Jungen wären am Ende imstande gewesen, frech gegen sie zu werden.
Als Ludwig indes die letzten Worte rief, stand sie eilig auf und trat hinzu.
„Wer ist der Dieb, wer hat gestohlen?“ fragte sie und faßte August fest am Arm“
„Ich nicht, der da!“ sagte Ludwig, es wurde ihm aber plötzlich angst und bange und ohne sich zu besinnen, machte er sich schnell wie der Wind aus dem Staube.
Frau Stein hielt August noch immer fest, und wie er sich auch bemühte, von ihr loszukommen, es gelang ihm nicht, sie hielt ihn fest, wie in einer Klammer.
„Jetzt sagst du gleich, wo du das Goldstück her hast, das du eben der Honigkuchenfrau gabst,“ fragte sie. „Wirst du antworten?“
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