Vinja verlangsamte ihren Schritt, um sich mit ihr unterhalten zu können. Masia lächelte sie an.
»Nochmal danke für deine Hilfe. Ich glaube, ohne dich hätte ich es nicht geschafft.«
»Ach Unsinn«, antwortete Vinja, aber sie wusste, dass Masia vermutlich recht hatte.
Masia nahm Vinjas rechte Hand zwischen die ihren und drückte sie. Ihre Haut war heiß und trocken.
»Sicher sehen wir uns bald wieder«, sagte die alte Frau. »Ich komme in eurer Wäscherei vorbei, wenn ich kann. Es wird nicht schwierig sein, sie zu finden. Ich habe gehört, es soll die einzige in ganz Ijaria sein.«
Es dauerte einen Moment, bis Vinja begriff, dass Masia sich verabschieden wollte. Sie blickte sich um.
»Du kommst nicht mit herein?«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Heute nicht mehr. Ich kann mir keinen Gasthof leisten und ich möchte nicht nachts durch die Straßen irren.«
»Aber dann schlaft doch lieber innerhalb der Mauern, das ist doch sicherer als hier draußen!«
Masia warf einen zweifelnden Blick Richtung Tor.
»Ich wette, das gibt nur Ärger mit der Stadtwache.« Sie schaute sich um. »Wir haben die ganze Zeit im Freien geschlafen, da wird die letzte Nacht mich nicht umbringen. Morgen suche ich dann den Laden meiner Schwester.«
Vinja merkte, dass Masia sich nicht von ihrem Plan abbringen lassen würde und nickte.
»Komm uns besuchen, sobald du kannst«, sagte sie mit belegter Stimme. Sie drehte sich nach vorn und sah, dass ihre Eltern das große Tor erreicht hatten und sich suchend nach ihr umschauten.
»Bis bald!«, rief sie Masia zu, dann drehte sie sich um und lief zum Tor.
»Da bist du ja endlich!«, schimpfte Rigund, als Vinja zu ihnen aufgeholt hatte. »Willst du hier draußen bleiben? Dann trödle nur weiter!«
Vielleicht sollte ich dass, dachte Vinja trotzig, doch sie schluckte ihre Widerworte herunter.
Der Torgang, den sie durchqueren mussten, war lang und dunkel. Fast alles wirkte fremd auf Vinja. Instinktiv trat sie näher an den Wagen.
An seinem Ende öffnete sich der Torgang hin zu einer breiten Straße, die schnurgerade auf das Zentrum der Stadt zulief. Auch hier wimmelte es von Menschen. Lärm drang auf Vinja ein, der Lärm von Karren, Füßen und Hufen, von Stimmen, die riefen, sprachen oder flüsterten. Alles ballte sich zu einem Wirrwarr von Geräuschen zusammen, deren Ursprung nicht mehr zu erkennen war. Ein fremder Geruch stieg ihr in die Nase. Für einen Moment wurde ihr schwindelig und sie musste sich am Karren festhalten. Kurz schloss sie die Augen, dann machte sie den letzten Schritt aus dem Gang hinaus.
Über die Straße hinweg, weit entfernt sah sie den Berg, den sie aus der Ferne schon bemerkt hatte. Das Licht der untergehenden Sonne tauchte die Festung auf seiner Spitze in rot-goldene Farben und ließ sie über die gesamte Stadt erstrahlen. Vinja tat einen tiefen Atemzug.
Sie waren in Ijaria angekommen.
Jorian
In einem einzigen, riesigen Schwarm flogen die Sperlinge über die Stadt. Es waren Hunderte, Tausende und nochmal Tausende. Zusammen ergaben sie eine Wolke aus Federn, Krallen und Schnäbeln, die sich in immer neuen Formen mal hierhin, mal dorthin bewegten. Trotz ihrer großen Zahl gab es nie Verwirrung über Richtung und Ziel. Sie flogen hinunter zum breiten Fluss, der sich quer durch die Stadt zog, dann stiegen sie wieder hinauf, hoch zum königlichen Palast, der majestätisch über der Stadt thronte.
Hier, entgegen der Perfektion, mit welcher sich die Sperlinge aneinander orientierten, gab es mit einem Mal ein Durcheinander. Ein kleiner Vogel geriet durch einen überraschenden Wirbel aus der Bahn, wurde gegen einen großen, älteren Vogel geworfen und stürzte dann hinab, trudelte flatternd Richtung Boden. Erst hier bekam er sich wieder unter Kontrolle.
Sofort wollte er wieder hinauf, doch er hatte die Orientierung verloren. Flatternd verfing er sich im Geäst einer Weide, die in einem kleinen, von einer Mauer umgebenen Garten stand.
Im Schatten der Mauer lag ein Hund und schlief. Als der kleine Vogel den Hund entdeckte, geriet er erneut in das Geäst des Baumes. Er brach seitlich aus, versuchte in einem Fenster zu landen, verfehlte es und schaffte es dann knapp auf der steinernen Bank eines zweiten Fensters.
Das Fenster gehörte zu einem Haus, das an den Garten anschloss. Auch die zweite Landung wäre beinahe misslungen und der Vogel gab ein erschöpftes und aufgeregtes Zwitschern von sich, bevor er in das Zimmer hineinspähte. Das Zimmer war groß, sogar sehr groß. Links und rechts standen Regale, die bis zur Decke reichten und bis oben mit Büchern vollgestellt waren. In der Nähe der Fenster stand ein Tisch mit allerlei Papier, Tintenfässchen und Federhaltern.
Am Tisch saß ein junger Mann, groß, hager und mit zerzausten dunklen Haaren. Als der kleine Vogel sein aufgekratztes, fast panisches Zwitschern von sich gab, blicke er auf und sah den Vogel an. Schnell schaute der Vogel beiseite und sah, dass im Raum ein weiterer Mann stand, breiter und älter als der andere. Er trug einen schmalen Hut, unter welchem kaum noch Haare hervorkamen, hatte ein gerötetes Gesicht und starrte schweigend an die Decke des Zimmers, einen Finger nachdenklich auf die Lippen gelegt.
Der Vogel schaute zurück zu dem Jungen und sah, dass der ihn immer noch mit fragendem Blick beobachtete. Das war zu viel der Aufmerksamkeit. Mit einem weiteren aufgebrachten Zwitschern drehte der Vogel sich um, warf sich zurück in die Luft und machte sich auf, um zu seinem Schwarm zurückzukehren.
Der Junge starrte dem Vogel noch eine Weile hinterher, doch der plötzliche Klang einer Stimme ließ ihn zusammenzucken.
»Ich hab's!«, rief der andere Mann. »Jetzt weiß ich es, schreib …«, er machte eine Pause, in welcher er mit erhobenen Händen erstarrte, »schreib: Meine allerwerteste und verehrte Mirulla, in Demut wende ich mich an Euch, wohl wissend, dass ich Eure kostbare Zeit nur flüchtig …«
Er unterbrach sich, erstarrte erneut und begann dann mit den Armen zu wedeln.
»Nein!«, rief er und warf dem Jungen einen besorgten Blick zu, »schreib das nicht, hast du das schon geschrieben? Wenn ja, dann brauchen wir einen neuen Bogen Papier, das klingt ja fürchterlich. Viel zu förmlich, viel zu unterwürfig. Ich muss noch einmal überlegen.«
Der junge Mann, der noch nichts geschrieben, ja nicht einmal die Feder in eines der Tintenfässchen getunkt hatte, nickte und stieß einen leisen Seufzer aus.
Der andere Mann begann im Zimmer auf- und abzulaufen, wobei er vor sich hin murmelte. Hin und wieder blieb er stehen und sagte »Schreib!«, bevor er dann mit einem »Nein nein, schreib noch nichts« wieder begann, im Zimmer seine Kreise zu drehen.
Der Junge wartete geduldig. Nur manchmal warf er einen nervösen Blick zum Fenster oder zur Tür, als fiele ihm etwas ein, das er vergessen hatte.
»So wird das nichts«, sagte der Mann plötzlich mit weinerlicher Stimme, »mir fehlen einfach die Worte, ich weiß einfach nicht, wie ich es ihr sagen soll.«
Der Junge nickte dem Mann verständnisvoll zu, ohne jedoch etwas zu sagen. Nach kurzer Überlegung schien dieser einen Entschluss gefasst zu haben.
»Ich …«, begann er, als hätte er sich daran gewöhnt, seine Gedanken erst hören zu müssen, um ihre Qualität zu beurteilen, »ich werde … Ich werde einen Poeten beauftragen!«
Seine Gesichtszüge entspannten sich und ein hoffnungsvolles Lächeln trat auf sein Gesicht.
»Das ist es! Ich werde einen Poeten beauftragen! Er wird etwas für mich schreiben können! Das wird klappen!«
Fast schien er einfach gehen zu wollen, als ihm einfiel, dass er nicht alleine war.
»Oh«, sagte er beschämt, »und … tut mir leid, wenn ich deine Zeit verschwendet habe, Borian, ich komme sicher ein anderes Mal auf deine Hilfe zurück. Guten Tag!«
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