"Das kam definitiv aus dem Wald. Ob sich wieder eines der Tiere zu nahe an die Stadt heran verirrt hat?"
Der Weg vom Osttor führte nach einigen 100 Metern direkt in einen weitläufigen Wald, der die Ausmaße der goldenen Stadt, zumindest vom Durchmesser her, noch übertraf. Er war aber mehr länglich und verlief so von Norden nach Süden. Von Westen nach Osten war er lange nicht so groß.
"Gut möglich, zumindest wäre mir ein Tier lieber als sonst irgendwas.", sagte Enrique.
"Was denkst du denn, was da sein könnte?"
"Keine Ahnung, vielleicht dieses Echsenvolk. Die sollen ja immer mehr werden, erzählt man sich in der Stadt."
"Vielleicht wollen sie aber auch gar nicht die goldene Stadt angreifen, sondern verschwinden von hier. Fahren rüber nach Amerika. So wie es diese eine Familie gemacht hat. Wie hießen die noch gleich?", fragte Dave.
"Meinst du etwa die, die dort drüben ein ganzes Reich aufgebaut haben?"
"Ja, die mein ich. Soweit ich weiß, leben die jetzt glücklich und zufrieden in ihrem Palast, direkt in der Hauptstadt ihres großen Reiches Hanveltien."
Erneut ertönte ein Geräusch, das so klang, als ob irgendetwas oder irgendjemand auf einen Ast getreten war, der danach zerbrach.
"Was zur Hölle ist das bloß?", fragte Dave erneut.
"Sollen wir uns das mal ansehen?"
"Ich geh da jetzt sicher nicht hinein. Der Wald ist mir schon am Tag nicht geheuer."
"Das ist doch nur ein Wald.", meinte Enrique.
"Das sagst du, aber ich habe anderes gehört. Da drinnen sollen sich seltsame Wesen tummeln."
"Glaubst du alles, was du hörst?"
"Wenn es wahr ist, schon."
"Woher willst du wissen, ob es wahr ist?"
"Manches hört sich einfach richtig an."
"Und wenn ich dir jetzt sage, dass ich in Wirklichkeit ein Gla-Bogga bin, der mithilfe eines Zaubers in einen Menschen verwandelt wurde und so das Volk von Anthem Gows unterwandert, um ihre Schwächen aufzudecken und dann seinem König mitzuteilen, damit die goldene Stadt fällt, würdest du das auch glauben?"
"Nein.", antwortete Dave. "Weil du es ins Lächerliche gezogen hast. So etwas ist doch gar nicht möglich."
"Wer weiß schon, was möglich ist. Ich denke, dass sehr viele seltsame Dinge vor langer Zeit passiert sind, aber heutzutage erfährt man von so etwas nichts mehr."
"Sieh mal, da bewegt sich was!"
Tatsächlich war eine Gestalt aus dem Wald gelaufen. Oder mehr gehumpelt. Es schien sich um einen Menschen zu handeln und er wirkte so, als ob er jeden Moment tot umfallen könnte. Sofort liefen die beiden Wachen ihm entgegen. Der Unbekannte stapfte noch ein paar Schritte und als er bemerkte, dass Hilfe bereits unterwegs war, ließ er sich auf die Knie fallen. Die Wachen erreichten ihn und fragten sofort:"Alles in Ordnung? Was ist passiert?"
Der Unbekannte sah sie beide an, dann verdrehte er die Augen und kippte bewusstlos um.
"Was ist nur mit ihm passiert?", fragte Enrique.
"Das weiß ich auch nicht. Er scheint aber noch ziemlich jung zu sein. Möchte wissen, warum er so erschöpft ist. Was sollen wir jetzt mit ihm tun?"
"Keine Ahnung, am besten, wir tragen ihn zurück zum Tor und fragen die Jungs dort, die können uns vielleicht sagen, was wir mit ihm machen sollen."
Also trugen sie den unbekannten Jungen zu zweit zurück zum Osttor. Es war keine weite Strecke, aber wenn man einen Menschen tragen musste, konnte sie schon etwas länger erscheinen. Schließlich kamen sie beim Osttor an und die inneren Wachen bemerkten sofort, dass etwas geschehen war.
"Was ist los? Was stimmt nicht mit ihm?", fragte einer.
"Das wissen wir auch nicht, er ist vor uns einfach umgekippt. Er hat kein Wort gesagt. Wir müssen ihm irgendwie helfen. Aber was können wir tun?"
"Bringen wir ihn zu uns in die Kaserne. Dort wird man sich um ihn kümmern. Und jemand sollte den Kaiser benachrichtigen. Sicher wird er wissen wollen, was es mit diesem Jungen auf sich hat."
"Gut, dann mal frisch ans Werk, Männer.", sagte Dave.
So brachten sie den Jungen in die Militärkaserne und dort kümmerte sich ein Arzt um ihn. Außer einer Wunde am Hinterkopf, die wohl stark geblutet hatte, besaß der Junge keine Verletzungen. Der Arzt meinte, wenn er erschöpft war, dann wahrscheinlich, weil er sich zu sehr angestrengt hat. Jedenfalls gab es keine andere Erklärung dafür und auch keine Verletzung, die man dafür hätte verantwortlich machen können. Dave war indessen zum Kaiser geeilt, um ihm die Nachricht vom unbekannten Jungen zu überbringen. Aber man ließ ihn nicht zu Kaiser Theron, denn ab 18 Uhr war der Kaiser nicht mehr empfänglich, auch nicht für die Stadtwache. Schließlich überbrachte er der Elitegarde die Neuigkeit mit der dringlichen Bitte, sie ehestmöglich an den Kaiser weiterzuleiten. Währenddessen hatte der Arzt in der Militärkaserne sich um den unbekannten Jungen gekümmert. Doch wann er aufwachen würde, war unklar. Enrique war bei ihm geblieben und wartete nun darauf, dass sein Kollege zurückkehrte, am besten mit dem Kaiser im Schlepptau. Doch er kehrte allein zurück.
"Schlechte Nachrichten, ich konnte nicht zum Kaiser durchdringen. Die Elitegarde wird ihm die Neuigkeiten aber überbringen.", sagte Dave.
"Das könnte ja bis morgen Vormittag dauern. Was, wenn er bis dahin erwacht ist und irgendein Unheil verkündet?"
"Was denn für ein Unheil? Denkst du, er war vor etwas auf der Flucht?"
"So erschöpft wie er war, wäre das durchaus denkbar."
Plötzlich gab der Junge einen Laut von sich.
"Aaah, mein Schädel. Was ist los?" Er sah sich um und versuchte, sich zu orientieren.
"Er ist aufgewacht.", sagte Enrique sofort und sprach ihn an:"Junge, wie heißt du?"
"Wie ich heiße? Was soll die Frage? Ich heiße Julian. Wie denn sonst?"
"Weißt du, wo du dich gerade befindest?"
"In Herbstweih?"
"Was zur Hölle ist Herbstweih?", fragte Dave.
"Das ist ein kleines Dorf nicht weit von hier entfernt. Im Osten, jenseits des Waldes, da wo er herkam.", antwortete Enrique.
"Was meint Ihr mit "nicht weit von hier entfernt"? Sind wir etwa nicht in Herbstweih?"
"Nein, du befindest dich in der Militärkaserne von Erudicor, der goldenen Stadt."
"Die goldene Stadt...", murmelte Julian. Dann dachte er kurz nach. Plötzlich richtete er sich wie vom Blitz getroffen auf.
"Das Dorf! Oh nein! Dann war das also gar kein Traum. Das darf nicht wahr sein!" Er wirkte verstört.
"Was ist los? Was ist mit dem Dorf?", fragte Dave sofort nach.
"Ich dachte, ich hätte nur geträumt. Alles, was ich noch weiß, ist, dass plötzlich alle in Panik herumliefen. Dann kamen sehr große Wesen in unser Dorf gelaufen und begannen, alle zu töten. Ich wollte mir ein Schwert schnappen und gegen sie kämpfen, doch dann verlor ich das Bewusstsein. Wahrscheinlich hatte mich einer von ihnen mit irgendetwas beworfen."
"Was für Wesen waren das? Kannst du dich an sie erinnern?"
"Ich erinnere mich daran, was passierte, nachdem ich wiedererwachte. Das will ich Euch erzählen."
Alle lauschten gespannt seinen Worten. Nun waren alle Wachen in der Nähe sowie der Arzt um Julian herum versammelt, denn er hatte ganz schön viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Als ich erwachte und mich umsah, bemerkte ich, dass das ganze Dorf brannte. Überall lagen Leichen und die meisten Häuser waren schon abgebrannt. Doch einige Gestalten trieben sich noch herum und untersuchten, ob die Toten auch wirklich tot waren. So groß und muskulös wie sie waren, konnten es nur Trolle sein. Gerade, als ich aufstehen wollte, drückte mich irgendetwas wieder zu Boden. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, so starr vor Angst war ich. Eine hässliche Schweinefratze beugte sich über mich. Das war das Gesicht eines sehr mächtigen Trolls. Ich konnte seine Macht spüren. Er besaß sogar Stoßzähne, die er mir beinahe ins Gesicht gebohrt hätte, wenn er sich noch näher an mich herangewagt hätte. Er sah mir tief in die Augen und sagte:"Denkst du, das hier ist ein Traum, Junge? Du wirst dir wünschen, es wäre einer. Denn alle, die du jemals kanntest, sind nur noch Asche, zusammen mit dem Dorf, das einst deine Heimat war. Aber du hast Glück, denn wie es der Zufall so will, werden wir dich verschonen. Deshalb werde ich dir auch meinen Namen verraten, damit du weißt, wem du dein Leben verdankst. Ich bin Fröthljif, der mächtigste Troll, der dir jemals unterkommen wird. Und nun lauf, armseliger Wurm."
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