"Tut mir leid, mein Herr, aber die Kutschen fahren erst ab 10 Uhr."
Es war gerade 8 Uhr morgens.
"Ich muss aber so schnell wie möglich ans Meer. Wie kann ich noch dorthin gelangen, ohne ewig zu warten?"
"Nun, lasst mich mal sehen. Ihr könntet ein Pferd kaufen und selbst reiten. Wie viel Geld tragt Ihr bei Euch?"
"Wie wäre es mit 25 Silberlingen?"
"Zu Eurem Pech kostet ein Pferd aber 150 Silberlinge."
"Aber ich brauche dringend eines. Ich muss doch die anderen Reiche davon überzeugen, dass sie uns Unterstützung schicken. Ich bin im Auftrag des Kaisers unterwegs."
"Im Auftrag des Kaisers? Das kann ja jeder behaupten. Habt Ihr denn etwas, dass das auch beweist?"
Da fiel Julian das Siegel ein, welches ihm Kaiser Theron verliehen hatte. Er zeigte es dem Mann und schon bald saß er auf einem schnellen Schimmel, der alles gab, um Julian so schnell es ging ans Meer zu bringen. Der Mann bestand darauf, dass Julian auch noch eine Karte von Europa mitnahm, um seine Route verfolgen und überwachen zu können. Bei einer Karte, die so undetailliert ein so großes Gebiet zeigte, war das nicht einfach, doch es musste reichen und war besser, als keine Karte. Julian konnte außerdem nicht reiten, doch der Mann war so freundlich, ihm die Grundzüge schnell beizubringen. Es war zwar noch eine Herausforderung, aber es funktionierte. Während er weiter südwärts, in Richtung Meer ritt, dachte Julian darüber nach, was ihm das kaiserliche Siegel für Vorteile bringen würde. Davon abgesehen war er schon sehr aufgeregt, Raspetanien endlich zu besichtigen. Er besaß keine Erinnerungen daran aus seiner Kindheit. Umso spannender war es nun, das Reich zu bereisen, in dem er geboren war. Doch davor erwartete ihn noch ein langer Weg. Schon bald gab Julians Pferd alles und brachte ihn schnell voran. Doch nachdem er den ganzen Tag bis abends geritten war, wurde das Pferd langsamer. Es hatte die Grenze seiner Belastbarkeit erreicht und brauchte dringend Nahrung. Also hielt Julian in einem kleinen Dorf, welches sich in einem von Bergen umgrenzten Tal befand. Soweit er wusste, musste er noch in Anthem Gows sein. Die Leute im Dorf waren sehr freundlich und als Julian ihnen das Siegel des Kaisers zeigte, boten sie ihm und seinem Pferd Verpflegung sowie eine Unterkunft für die Nacht an. Es war sinnlos, in der Nacht weiter reiten zu wollen. Das Pferd konnte nicht so gut sehen und Julian ebenso wenig. So konnte schneller ein Unfall geschehen, der Julian nur noch mehr Zeit kosten würde. Dafür hatte er keinen Platz in seinem Plan. Also ruhte er sich über die Nacht aus und am nächsten Tag brach er früh auf. Am Abend zuvor hatte er sich noch von den Leuten im Dorf zeigen lassen, wo genau sie sich befanden. Ohne Zweifel lag das umliegende Land noch in Anthem Gows. In der Nähe gab es sogar einen großen See. Außerdem hatte Julian schon gut die Hälfte des Weges von der goldenen Stadt zum Meer zurückgelegt. Am zweiten Tag war es jedoch umso schwieriger, weil sich viele Berge Julian in den Weg stellten. Meistens ritt er lange Täler bis zum Ende, wo er dann mühsam über schmale Pfade die Berge besteigen musste. Die Hälfte der Zeit ging er zu Fuß neben dem Pferd, weil er sich so sicherer fühlte. Das Pferd war auch nicht gerade berauscht darüber, die Berge erklimmen zu dürfen. Manchmal gab es natürliche Höhlen, die an einer Seite in den Berg hinein und auf der anderen wieder hinausführten. Dann gab es Berge, die recht leicht zu besteigen und schnell überwunden waren. Dennoch nahm das viel Zeit in Anspruch und als schließlich die schlimmsten Berge hinter den beiden lagen und Julian endlich wieder auf freiem Felde reiten konnte, sah er im Westen schon die Sonne langsam verschwinden. Der zweite Tag war vergangen. Doch nun konnte es nicht mehr allzu weit sein. In einem einsamen Haus, das Julian inmitten von unendlich weiten Feldern und Wiesen fand, traf er auf ein altes Ehepaar, welches ihm gerne aushalf. Er musste nicht einmal das kaiserliche Siegel herzeigen und das war auch besser so. Denn die beiden verrieten ihm, dass er sich bereits in Falteritanien befand und die Hafenstadt Genòa nur noch einen Tagesmarsch entfernt lag. "Das sollte mit dem Pferd schnell zu bewältigen sein.", dachte sich Julian. Sein Pferd wurde wie auch am Vortag wieder versorgt und konnte sich von den anstrengenden Anstiegen auf die Berge erholen. Am nächsten Tag brach Julian wie gehabt früh auf und erreichte schon am frühen Nachmittag Genòa, ihres Zeichens die Hafenstadt Falteritaniens, die den Schiffsverkehr in westliche Richtung abwickelte. Alles, was nicht innerhalb des Mittelmeeres blieb, sondern sich durch den schmalen Mittelmeerpass zwischen Selvunia und Raspetanien hinaus in die weiten Ozeane der Welt bewegte, lief dort aus. Umgekehrt kam auch fast alles, was von außerhalb des Mittelmeeres eintraf, in Genòa an. Julian wollte nur über das Mittelmeer hinab zur Nordküste Raspetaniens, doch auch das war von hier aus möglich. Zunächst verkaufte Julian sein Pferd an einen Händler und bekam dafür immerhin 70 Silberlinge. Das kaiserliche Siegel hätte ihm beinahe das Geschäft versaut und außerdem hätte die Stadtwache ihn fast schon genauer unter die Lupe genommen. In einem Gefängnis zu landen und sich von Haggar Borrians Wachen befragen zu lassen, war das letzte, was er jetzt brauchen konnte. Natürlich konnte Julian gleich den nach Kaiser Therons Aussage alles andere als freundlichen König Falteritaniens um Hilfe bitten, doch wenn diesem irgendwas an ihm nicht gefiel, dann würde er vielleicht gleich exekutiert oder weggesperrt werden und wer sollte dann die anderen Reiche um Hilfe bitten? Nein, Haggar Borrian musste warten. Soviel stand fest. Wenn Julian sich Mühe gab, waren sie womöglich gar nicht mehr auf ihn angewiesen. Nun bestand die erste Aufgabe also darin, ein Schiff zu finden, das nach Raspetanien segelte. Schon bald hatte Julian ein großes Segelschiff entdeckt, auf das immer mehr Leute marschierten. Auch viele dunkelhäutige Menschen, die den Großteil der raspetanischen Bevölkerung ausmachten, befanden sich auf dem Schiff. Dann fragte Julian einen Mann mit sehr dunkler Haut und kahl rasiertem Kopf in einem knallgelben Gewand, ob das sein Schiff sei. Er stand selbstbewusst davor und sah jeden, der das Schiff bestieg, genau an. Deshalb nahm Julian an, dass er vielleicht der Kapitän sei.
"Verzeiht, aber gehört Euch dieses Schiff?", fragte Julian.
"Das kann man so sagen, mein Freund.", antwortete der Fremde. "Aber wo bleiben denn meine Manieren. Ich bin Odobar, Prinz des Nebels und Sohn des Statthalters von Bar Golan, der Handelsmetropole Raspetaniens. Mit wem habe ich das Vergnügen?"
"Ich bin Julian aus Anthem Gows und ursprünglich bin auch ich in Raspetanien geboren. Es freut mich, Euch kennen zu lernen, Odobar."
"Ganz meinerseits, Julian. Immer schön, einen Landsmann zu treffen. Was kann ich denn für Euch tun?"
"Nun, wenn dies Euer Schiff ist, liege ich dann richtig in der Annahme, dass Ihr bald nach Raspetanien zurücksegelt?"
"Das ist absolut korrekt, mein Freund. Noch heute Abend brechen wir auf in Richtung Apuerto. Falls Euch dieser Name nichts sagt, dabei handelt es sich um die nördlichste Hafenstadt ganz Afrikas. Noch dazu ist sie ungefähr gleich weit entfernt von der Hauptstadt Raspetaniens, Aschakrhan und Bar Golan, meiner Heimatstadt. Ich schlage dann natürlich den Weg Richtung Süden, nach Bar Golan, ein. Aber warum interessiert Euch das? Wollt Ihr mich begleiten?"
"Ja, wenn das möglich ist, würde ich sehr gerne mit Euch nach Raspetanien segeln. Es ist von äußerster Dringlichkeit."
"Tatsächlich? Dann ist es gut, dass wir einander begegnet sind. Denn bei dringlichen Angelegenheiten vermag ich Euch zu helfen. Worum genau geht es, mein Freund?" Odobar war sehr hilfsbereit und zögerte nicht einen Moment, Julian seine Hilfe anzubieten. Und das, obwohl er ihn nicht einmal kannte. Julian hätte auch einfach lügen können und in Wirklichkeit Motive haben können, Odobar zu schaden und er hätte ihm trotzdem geholfen. Das war der Geist von Raspetanien. Man begegnete allen als gleichgestellt und so konnte man natürlich auch allen Hilfe anbieten, auch wenn einige diese Hilfe gar nicht verdienen würden. Julian erklärte Odobar sofort, was eigentlich los war.
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