Sie brachen auf. Ihr Weg führte sie zunächst quer durch die Stadt. Es war mühselig – zumindest erschien es ihr so. Es gab es allerlei für sie undurchschaubare Regeln, wie sich die Wagen auf den Straßen zueinander zu verhalten hatten. Tatsächlich waren auch überall diese rotberockten Breenen zu erblicken – SOKs, wie Kishou nun wusste. Sie standen zumeist an den Häuserwänden, die Hände mit dem langen schwarzen Stab auf den Rücken verschränkt.
Ihre Fahrt endete in der Mündung einer kreuzenden Straße, deren Verlauf an einem Fluss entlang führte. Ein eisernes, niedriges Gitter begrenzte sein Ufer. Undolf schwenkte nach rechts, und erreichte bald darauf einen Platz, von dem aus ein breiter Steg ein kurzes Stück in den Fluss hinaus ragte. Viele Breenen und Fuhrwerke standen dort aufgereiht in mehreren Reihen.
„Wir müssen auf die andere Seite!“, meinte Undolf nach hinten.
Kishou sah eine Plattform mit einer Baracke darauf, die gerade von dem Steg ablegte, und offenbar mittels eines Flussüberspannenden Taus auf die andere Seite gezogen wurde. Mit zwei Wagen und Dutzenden von Breenen und Braanen darauf war er ausgelastet.
„Die Fähre ist nicht besonders groß. Es wird einige Zeit dauern, bis wir rüberkommen!“, meinte Undolf schließlich, während er sich in die Wartenden einreihte. Auch hier sah man unter der großen Menge von Breenen und Braanen die roten Kleider deutlich überall hervorstechen. Undolf betrachtete die Menge aufmerksam, als suchte er in ihr irgend etwas. „Es sieht nicht besonders gut aus!“, sagte er endlich.
Die Art, wie er das sagte – halblaut und mit starrem Gesicht – bewegte Kishou dazu, sich dicht hinter seinen Rücken zu platzieren. „Was meinst du?“
Es scheinen sehr viele Gleim hier sein!“, raunte er, ohne sich zu ihr umzublicken. „Ich habe schon auf den ersten Blick zwei von ihnen entdeckt – ungewöhnlich für diesen Ort! Außerdem sehe ich, dass sehr viel kontrolliert wird!“
„Oh!“, reagierte Kishou verwundert. „Ich denke, die kann man nicht erkennen? Woher weißt du das?“
Undolf schwenkte seine Beine über den Kutschbock und kam auf die Pritsche. „Ich erkläre es dir später!“ Er kramte kurz unter einigen leeren Säcken, und zog dann eine kleine Schachtel hervor, die er sofort unter seinen Mantel schob. „Warte einen Moment!“, sagte er nur und kletterte vom Wagen. Er schlenderte wie gelangweilt zwischen der Menge umher – blieb mal hier mal da einen Moment stehen, und kam dann wieder langsam zurück.
„Was ist?“, wollte Kishou wissen, nachdem er sich wieder auf den Kutschbock gesetzt hatte.
„Ich hab’ einen Fretti in der Menge ausgesetzt!“, erklärte er.
„Was hast Du?“, verstand Kishou nicht.
„Einen …“ Er unterbrach sich selbst, als er bemerkte, das Kishou damit wahrscheinlich garnichts anfangen konnte. „Ein Fretti ist ein kleines Tier – die gibt es hier überall!“, erklärte er nun. „Man sieht sie aber selten, weil sie nur Nachts unterwegs sind. Er war in der Schachtel. Da ist eine kleine Feder drin, die den Deckel gleich öffnen wird. Sie geben sehr unangenehme und unüberhörbare Töne von sich, wenn sie sich bedroht fühlen!“
„Und wieso hast du …“ Sie stockte, als plötzlich ein langgezogener, heller und quäkender Ton aus der Menge heraus zu hören war, der sich mehrmals wiederholte. Überall fuhren die Köpfe herum und richteten ihren Blick nach unten zu den Ort der Herkunft des Geschreis.
„Tatsächlich!“, reagierte Undolf. „Es wimmelt hier nur so von Gleimen!“
„Wieso? Wie kommst du jetzt darauf?“ Sie konnte beim besten Willen keinen Zusammenhang des Geschehens und seiner Feststellung erkennen.
„Den Ruf der Fretti kennt jeder!“, erklärte Undolf in gespannter Unruhe. „Aber man schaut natürlich reflexartig hin, wenn man ihn in seiner Nähe hört – außer dem Gleim. Er reagiert auf solche Profanitäten nicht. Sie sind nichts ungewöhnliches und es ist nicht ihre Aufgabe, darauf zu reagieren. So erkennt man sie in der Menge auf einen Blick! Ein kleiner Trick – aber immer wieder sehr wirkungsvoll!“, schloss er.
„Und jetzt?“, fragte Kishou beunruhigt. „Wir müssen ja wohl irgendwie da rüber!“
„Ziemlich riskant – ich hab’ kein gutes Gefühl hier!“, bemerkte Undolf. „Es gibt auch eine Brücke. Es ist ein Umweg, aber sicherer, als hier auf dem Präsentierteller zu stehen!“ Er kletterte erneut vom Wagen, und führte sein Zugtier am Kehlriemen aus den Wartenden heraus. Glücklicherweise standen sie außen in der mehrreihigen Schlange, so dass es problemlos möglich war. Es sollte nichts ungewöhnliches sein, dass sich auch mal jemand aus den Wartenden wieder herauslöste – aber es war wohl hier und heute ungewöhnlich genug.
Kishou sah, wie sich einer der rotberockten ganz in ihrer Nähe plötzlich aus der Menge herauslöste, und sein langer Stab im nächsten Moment Undolf Einhalt gebot. Der reichte dem SOK ein Papier – wohl seinen Existenznachweis – und kurz darauf noch ein Zweites und noch ein Drittes. Alles wurde von dem SOK im wechselnden Blick auf Undolf genau fixiert. Undolf sprach die ganze Zeit, aber Kishou konnte nichts verstehen, wegen der vielen Geräusche, die über der Menge lag. Der SOK ging mit den Papieren um den Wagen herum und betrachtete etwas auf seiner Hinterfront – wohl das Schild, das an jedem Wagen zu sehen war. Dann endlich gab er die Papiere an Undolf zurück.
Kishou wollte beinahe aufatmen, aber statt nun wieder zu verschwinden, kam der Rotberockte nun geradewegs auf sie zu. „Den Existenznachweis!“, befahl er leidenschaftslos.
Kishou reichte ihn klopfenden Herzens vom Wagen hinunter …
„Was ist eigentlich los?“, fragte Undolf, der nun neben dem SOK stand. „Es ist unübersehbar das ungewöhnlich viele SOKs auf den Straßen sind. Ich hatte heute noch keine Gelegenheit die Nachrichten zu lesen. Liegt etwas Besonderes vor?“
Der rotberockte Antwortete nicht und lass stoisch in dem Papier Kishous.
Laut VOASOK-63/14-3 sind sie verpflichtet, Auskunft zu erteilen, wenn eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung vorliegt, oder zu erwarten ist!“, sagte Undolf mit klarer und selbstbewusster Stimme. „Ich könnte mich im Zweifelsfalle nicht schützen, wenn eine solche Gefahr angezeigt ist, und ich sie wegen ordnungswidrig unterlassener Aufklärung nicht abwehren kann!“
Das zeigte tatsächlich Wirkung. Der SOK wandte seinen Blick von dem Papier und schaute auf Undolf. „Bei den Eindringlingen soll sich auch ein Breene aufgehalten haben!“
„Ein Breene?“, tat Undolf erschrocken. „Das kann doch nur bedeuten, dass sie Unterstützung in der ONO finden!“
„Es ist damit zu rechnen, dass die ONO nun verstärkt aktiv wird, zumal die Eindringlinge noch nicht festgesetzt werden konnten. Es ist also äußerste Vorsicht und höchste Aufmerksamkeit geboten!“, erklärte der SOK, während er Kishou ohne aufzublicken das Papier zurückgab. „Hierzu gilt VOBSOK-1/12a und b!“
„Ich werde mich umgehend über die hierfür geltenden Regeln ordnungsgemäß unterrichten!“, antwortete Undolf ernst. „Hoffen wir, dass der Spuk bald ein Ende hat!“ Mit diesen Worten bestieg er den Kutschbock, nickte noch einmal dem SOK zu, und gab dem Pferd das Zeichen zum Aufbruch. Erst nachdem sie sich schon ein gutes Stück von der Fährstelle entfernt hatten, wagte Kishou endlich hörbar aufzuatmen.
„Das war knapp!“, reagierte Undolf auf Kishous Erleichterungsbekundung.
Die schier endlose Straße führte die ganze Zeit direkt am Ufer des Flusses entlang, und erst als die Häuser auf der anderen Seite niedriger und spärlicher wurden, kam endlich die Brücke in Sicht – ein hölzernes Monstrum, das auf dicken Stelzen das Wasser überspannte. Sie wurde offenbar vor allem genutzt, um nach Trital hinein zu gelangen. Von ihrer Seite – also aus der Stadt hinaus – gab es nur wenige Wagen, die sie überquerten.
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