9.1.1 Stromversorgung und Intrazugkommunikation
Für den Einsatz vieler Innovationen benötigen die Güterwagen als Grundvoraussetzung eine Stromversorgung und eine Intrazugkommunikation. Erstere kann mit der sogenannten Zugsammelschiene ermöglicht werden, bei der eine Stromkabel alle Wagen eines Zuges mit der Lokomotive verbindet. Dies wird bereits im PV verwendet und kann gemeinsam mit der automatischen Kupplung eingeführt werden (vgl. nächstes Kapitel). Die Intrazugkommunikation ist ein Kommunikationssystem, das den Informationsaustausch zwischen Eisenbahnwagen und Triebfahrzeug ermöglicht, um zum Beispiel Informationen über den Bremszustand auszutauschen. Dafür müssen alle Wagen eines Zuges mit entsprechender Sensorik und Kommunikationsmitteln ausgestattet werden.
9.1.2 Automatisierung der Rangiervorgänge
Mit der automatischen Mittelpufferkupplung kann der Kupplungsvorgang vereinfacht und die Arbeitssicherheit im Rangierbetrieb erhöht werden, indem manuelle Kupplungsarbeiten entfallen (vgl. Abbildung 23und Abbildung 24).
Abbildung 23: Manuelle Schraubenkupplung 88 |
Abbildung 24: Automatische Kupplung 89 |
Bei der automatischen Bremsprobe werden die Bremsen aller Wagen durch den Lokführer vom Führerstand aus geprüft, wodurch das kontrollmässige Abschreiten des Zuges vor jeder Fahrt entfällt. Gemeinsam mit der automatischen Übermittlung von Zugsdaten wird die Abgangskontrolle vor jeder Fahrt vereinfacht. Bei einem 500 Meter langen Zug dauert die Bremsprobe heute 40 Minuten, automatisiert noch 10 Minuten. Abbildung 25zeigt die heute anfallenden manuellen Tätigkeiten bei der Zugvorbereitung.
Abbildung 25: Manuelle Tätigkeiten in der Zugvorbereitung (Auswahl) 90
Als dritter Bestandteil zur Teilautomatisierung der Nahzustellung kommt der Einsatz eines Kollisionswarnsystem mit Fernsteuerung der Rangierlokomotiven hinzu. Diese Elemente der Automatisierung sollen den Ein-Personen-Betrieb ermöglichen, statt der heute üblichen zwei oder gar drei Personen. Kosten und Zeitaufwand der Zugvorbereitung können damit stark verringert werden. Ausserdem kann laut der SBB Cargo das Berufsbild attraktiver gemacht werden, da für die schweren Rangierarbeiten kaum mehr Fachkräfte gefunden würden. Bis 2020 wurden alle Güterwagen im Binnen-KV mit der automatischen Kupplung und Bremsprobe ausgerüstet. Zudem ist in den nächsten Jahren mit finanzieller Unterstützung des Bundes die Umrüstung der gesamten Wagenflotte des EWLVs mit den genannten Komponenten geplant.
Des Weiteren meint Nicolas Perrin zum Rangierbetrieb: «Ich [kann] mir durchaus vorstellen, dass eine Person im Büro drei Lokomotiven bedient.» Von einem komplett automatisierten Betrieb gehe er hingegen - wie auch Philipp Hadorn - nicht aus. Einerseits ist es nicht sicher, ob dies technisch fehlerfrei, mit ausreichender Sicherheit und wirtschaftlich umsetzbar wäre und andererseits kann bei Fehlern nicht mehr direkt eingegriffen werden. Automatisierung ist letztlich Mittel zum Zweck: Wenn die Kosten den Nutzen übersteigen, lohnt sie sich nicht. Hingegen sehe ich - wie auch alle Interviewpartner - die Teilautomatisierung der Nahzustellung als eine der wichtigsten Schritte zur Steigerung der Produktivität des SGVs an.
Grosses Potenzial sieht Nicolas Perrin auch in selbstfahrenden Güterwagen, die die letzte Meile autonom zurücklegen könnten. Die Technologie stehe bereits zur Verfügung. Ich denke zudem, dass dies auf dem Hauptlauf erlauben würde, die Traktionsleistung der Triebfahrzeuge zu verringern. Doch letztlich müssen die eingesparten Kosten grösser als die Mehrkosten des Antriebs und Akkus sein, damit selbstfahrende Güterwagen eingesetzt werden. Ob und wann dies der Fall sein wird, kann ich nicht mit Sicherheit sagen.
9.1.3 Der intelligente Güterwagen
Mit dem Einsatz von Telematik und der entsprechenden Sensorik am Güterwagen können Daten erfasst und übermittelt werden. Damit können Ortungsdaten und der Zustand des Transportguts übertragen werden, wodurch die Kunden etwa auf Verspätungen reagieren können. Dies ist zudem eine Voraussetzung für eine verstärkte Einbindung des Transportes in die Logistikkette der Kunden (vgl. Kapitel 9.3.7). Weiter kann der Zustand des Rollmaterials erfasst und mit den Daten die Fahrzeuginstandhaltung automatisiert und verbessert werden, indem etwa Schäden frühzeitig erkannt werden. Auch können die EVUs die Daten zur Optimierung des Ressourceneinsatzes, sprich des Einsatzes des Rollmaterials, verwenden.
9.1.4 Verbesserte Laufwerke
Abbildung 26: Lärmemissionen von Eisenbahnwagen 91 |
Durch verbesserte Drehgestelle mit radial einstellbaren Radsätzen können Lärm, Energieverbrauch und Verschleiss verringert werden, indem der Reibungswiderstand insbesondere in Kurven verringert wird. Auch mit neuen Radsätzen können die Lärmwirkung und die Wartungskosten reduziert sowie die Laufleistung vergrössert werden. Als weitere Innovation würden Scheibenbremsen zu geringerem Verschleiss führen und gemeinsam mit den anderen Innovationen am Laufwerk die Lärmemissionen von heute 83dB auf 75dB, das Niveau des Personenverkehrs verringern (vgl. Abbildung 26). Durch die erhöhte Bremsleistung der Scheibenbremsen und mit weiteren Anforderungen wie geringeren Achslasten werden kürzere Bremswege und somit höhere Geschwindigkeiten ermöglicht, was die Transportzeiten verringert. 92Zudem resultiert durch die Angleichung der Geschwindigkeit an den Personenverkehr eine Erhöhung der Trassenkapazität (vgl. Kapitel 10.10.3). Die genannten Komponenten werden seit 2018 im «5L-Demonstratorzug» getestet, wobei eine Lärmreduktion von 5dB gemessen wurde. Bei diesem Testzug wurden auch verschiedene Elemente der vorhin beschriebenen Automatisierung und Digitalisierung erprobt.
9.1.5 Innovatives Wagendesign
Das Gewicht der Güterwagen stellt eine wesentliche Begrenzung der Zuladung dar: Je geringer das Wagengewicht, desto grösser kann das Zuladungsgewicht sein. Das Eigengewicht der Güterwagen kann bereits durch den optimierten Einsatz von konventionellen Materialien um mehrere Tonnen reduziert werden. Eine weitere Reduktion ist durch den Einsatz von innovativen Materialien wie Kohlefaserverbundwerkstoffen zu erreichen, jedoch sind diese für den Betrieb noch nicht ausgereift. Zudem schreiben die Regularien hohe Mindestgewichte vor, bei denen sich die Frage stellt, ob sie ohne Sicherheitseinbussen reduziert werden könnten.
Neben der Leichtbauweise kann die modulare Bauweise der Güterwagen Vorteile mit sich bringen: Durch Trennung von Tragwagen und Behälter kann ersterer standardisiert in hohen Stückzahlen produziert werden, während weiterhin transportgutspezifische Behälter eingesetzt werden. Dadurch können die Güterwagen flexibler eingesetzt werden und die Behälter allenfalls auf geringere Lebensdauern optimiert werden, da die Innovationszyklen sehr kurz sind.
9.1.6 Verlagerungspotenzial
Nachdem die wichtigsten Innovationen im Bereich der Güterwagen beschrieben wurden, stellt sich die Frage, wie gross deren Verlagerungspotenzial ist: Alle Interviewpartner schätzen dieses als sehr gross oder sogar als grösstes aller Innovationsbereiche ein und erachten eine umfassende Modernisierung als notwendig. Dabei wird insbesondere die Automatisierung der Rangiervorgänge hervorgehoben, da dadurch die Produktivität massiv erhöht und der Zeitaufwand stark gesenkt werden könne. Weiter wird auch der Digitalisierung mit dem Einsatz von Informationstechnologien (Telematik) ein hohes Potenzial zugeschrieben. Innovationen am Laufwerk würden zudem die negativen Auswirkungen des SGVs stark verringern.
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