Darauf konnte man sich nicht vorbereiten. Gewöhnte man sich irgendwann daran? Die Verzweiflung über Mikes Tat, der Schmerz in allen Gliedern meines Körpers und das unerträgliche Gefühl des Verletztwordenseins gingen jedoch allmählich in rote, gleißende Wut über.
Warum suchte ich die Schuld ausschließlich bei mir? Ich hatte mir nichts vorzuwerfen! Ich hatte nichts falsch gemacht. Ich war nicht diejenige, die die erste sich bietende Gelegenheit nutzte, um über jemand anderen zu rutschen. Vor allem war ich nicht diejenige, die unseren Traum vom gemeinsamen Leben zerstört hatte, von unserer lang ersehnten Traumhochzeit. Ich war nicht diejenige, die auf den schweinteuren Urlaub im Indischen Ozean schiss!
Je länger ich darüber nachdachte, desto aggressiver wurde ich. Ich steigerte mich richtig rein in diese Emotion. Alles war besser als das gestrige Jammern. Mike war doch an allem schuld, er ganz allein. An der ganzen beschissenen Misere! Wegen ihm hatte ich flaschenweise Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 50 gekauft und nun keine Verwendung dafür!
Es brodelte in mir und ich spürte das starke Verlangen, etwas zu schlagen, meine Wut herauszulassen und sie nicht zu unterdrücken, sodass ich auf den ersten Gegenstand in Reichweite einboxte und mir einbildete, es wäre Mikes Gesicht.
Muttis cremeweißes Spitzenkissen auf dem dunkelgrünen Sofa musste ziemlich viel einstecken.
„Nimm das, du Arschloch. Du hast es nicht anders verdient.“ Schlag Nummer eins.
„Du hast mich zutiefst verletzt. Was fällt dir ein?“ Schlag Nummer zwei.
„Anna, du bist die größte Schlampe überhaupt.“ Schlag Nummer drei, vier, fünf.
Danach prasselten die Schläge nur so auf das stille Kissen nieder. Es war ein prima Workout und machte sogar verhältnismäßig Spaß, was mich natürlich noch mehr anspornte.
Nach einer halben Ewigkeit entspannte ich mich etwas und die Schläge kamen in größeren Abständen, während mir wieder Tränen in die Augen stiegen. Ich fuhr fort, bis sich der Edelstein meines Verlobungsrings in die zarte Spitze des Kissens bohrte und hängenblieb.
„Scheiße, so eine Scheiße“, jammerte ich, als ich meinen Ring befreite.
Im Kissen blieb ein langer Zieher zurück. Meine Mutter würde nicht amüsiert sein.
Erneut wutentbrannt riss ich mir den elenden Ring vom Finger und machte mich stampfend auf den Weg in die Küche. Mein angepeiltes Ziel war der Abfalleimer.
Ich blickte für die nächsten zehn Minuten abwechselnd den Ring und den Mülleimer an. Dann fasste ich mir ein Herz und holte aus, um ihn wegzuschmeißen, aber mir kam eine zündende Idee.
Plötzlich die Ruhe selbst und lächelnd legte ich den Ring auf dem Küchentisch ab und kramte das Notebook meiner Mutter hervor. Ich wartete ungeduldig, bis sich die eBay-Website geöffnet hatte und trommelte mit den Fingern leise einen Rhythmus auf die Tischplatte.
Dann fiel mir ein, dass ich für mein Vorhaben ein Foto des Rings benötigte. Ich zückte mein Handy, erledigte sogleich diese Aufgabe und schickte mir das zugegebenermaßen gelungene Foto selbst per E-Mail. Dieser Ring konnte vermutlich auch nicht schlecht aussehen.
Dann starrte ich einen Augenblick auf die nun geöffnete Website und kramte fieberhaft nach der richtigen Formulierung. Als ich mir zurechtgelegt hatte, was ich schreiben wollte, tippte ich wie wild drauf los und begutachtete nach gut einer Stunde mein Werk.
Nach einigen Änderungen hier und da stellte mich der Entwurf tatsächlich zufrieden:
Ich biete:
Titel: Klassischer Damen-Brillantring aus 585er Weißgold
Kategorie: Mode & Beauty
Preis: 3499,00 € Verhandlungsbasis
Beschreibung:
Ich biete meinen weißgoldenen Verlobungsring mit vielen Brillanten aufgrund der geplatzten und seit Jahren sehnsüchtig erwarteten Strandhochzeit mit meinem untreuen Verlobten zum Verkauf an! 52er Ringgröße, weil ich für das Arschloch unentwegt Sport gemacht habe, um kein Gramm Fett zu viel am Körper zu haben und mein Traumkleid tragen zu können! Nur um ihn dann mit meiner dicken Freundin (Achtung: zweideutig) in flagranti zu erwischen!
Der Neupreis betrug 3.999,00 € – mein Freund hat sich den Arsch aufgerissen und unzählige Überstunden gemacht, um den fetten Klunker bezahlen zu können. Vielleicht wollte er so sein schlechtes Gewissen beruhigen, weil er schon seit einer Ewigkeit nach meiner besten Freundin lechzte? Dem Käufer wünsche ich jedenfalls mehr Glück in der Liebe, als ich es erfahren durfte!
Nicht optimal, aber auf jeden Fall aussagekräftig.
Genugtuung machte sich breit und ich grinste sogar zum ersten Mal seit der Sache herzlich über das ganze Gesicht. Es mochte eine Kurzschlussreaktion sein, aber es fühlte sich gut an und nur das zählte im Augenblick für mich. Ich wollte Mike mit der Aktion genauso verletzen, wie er mich getroffen hatte, als er auf Anna hing und ich das sehen musste.
Zufrieden und etwas leichter ums Herz machte ich mich bettfertig.
Als ich dann jedoch wie ein Rollmops in meine alte Pferdebettwäsche eingewickelt war, wollte der Schlaf nicht kommen. Die Schreiberei hatte einen Adrenalinstoß in mir ausgelöst und ich war viel zu aufgedreht, um einzunicken. Lange lag ich wach und prüfte im Laufe der Nacht immer mal wieder mein Handy.
Scheinbar ging es in dieser sternenklaren Nacht einer anderen Person nicht anders als mir in Punkto Schlaflosigkeit, denn ich erhielt gegen drei Uhr eine Nachricht über eBay bezüglich meiner gerade eingestellten Anzeige:
Hallo, ich bin stark an dem Ring interessiert. Können Sie mir ein Foto vom Echtheitszertifikat zusenden? Bitte teilen Sie mir auch schnellstmöglich Ihre Bankverbindung mit. Ich würde sofort bezahlen, es eilt. Gruß N.
Da wollte wohl jemand Hals über Kopf auf die Knie fallen und um eine Hand anhalten?
Ich lachte laut auf, denn ich hatte nicht wirklich mit einer Antwort auf die alberne Anzeige gerechnet. Das gab’s doch nicht. Zum Glück war ich ein bizarrer Mensch und trug das besagte Zertifikat seit der Verlobung stolz in meinem Portemonnaie mit mir herum, um es allen zu zeigen, die meinen Ring bewunderten.
Schnell stand ich auf und lief barfuß im Dunkeln zu meiner Tasche. Der Fußboden war eiskalt und ich schauderte. Ich beeilte mich, um mich vor dem Tod durch Erfrieren zu schützen und lief mit dem Zertifikat in der Hand schnurstracks wieder zurück in mein altes Kinderzimmer.
Dort angekommen, schaltete ich die Nachttischlampe ein und krabbelte eilig unter die noch warme Bettdecke. Konzentriert fotografierte ich ein paar Mal das Zertifikat ab, bis alles deutlich zu erkennen war. Ich sendete dem Interessenten das Foto und die gewünschten Daten zu. Zum Preis hatte er sich nicht geäußert. Er würde doch nicht wirklich so viel zahlen wollen? Oder etwa doch?
Nun konnte ich erst recht nicht schlafen und wartete gespannt auf eine weitere Nachricht, die prompt kam:
Danke für die zügige Antwort. Alles in Ordnung. Ich überweise Ihnen den gewünschten Betrag genau in diesem Moment und verlange dafür, dass sie mir den Ring samt Zertifikat gleich morgen als Eilsendung zukommen lassen. N .
Hatte die Person das tatsächlich geschrieben, oder träumte ich?
Manche Menschen hatten vielleicht Nerven und einen Umgangston, dachte ich mir. Aber bei dem großen Geldbetrag war mir das herzlich egal. Wenn es tatsächlich ernst gemeint war und ich morgen den beachtlichen Geldbetrag auf meinem Konto vorfand, war ich reich!
Mit diesem Gedanken schlief ich endlich ein, als sich mein Vater bereits auf den Weg zur Arbeit machte.
Nach der größtenteils durchwachten Nacht war ich unheimlich froh, dass meine Mutter mich am nächsten Morgen solange in den Federn liegen ließ, wie es mir beliebte.
Auch an diesem Tag wurde ich sanft durch warme Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht geweckt. Aber heute wusste ich sofort, wo ich mich befand. Und noch ein Lichtblick erhellte den Start in den Tag – ganz im Gegensatz zu gestern begrüßten mich keine dumpfen Kopfschmerzen. Das war doch schon mal ein Anfang, sagte ich mir, setzte mich auf und drückte die blanken Füße in den lilafarbenen Plüschteppich, der seit Jahren vor dem Bett lag.
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