„Kati, nun schleich doch nicht so“, rief Mutter mir zu und winkte aus fünf Metern Entfernung. Es war faszinierend, dass sie ausgerechnet beim Shopping ihre chronischen Knieschmerzen vergaß und rennen konnte, wie ein junges Reh.
„Wo willst du zuerst rein? Schuhladen?“ Ich hatte die Distanz zwischen uns fast aufgeholt, da sprintete sie, ohne eine Antwort abzuwarten, schon wieder los und murmelte: „Ja, Schuhladen. Da gibt es doch auch Koffer.“ In einem Affenzahn bog sie in den Laden ab. „Und Schuhe natürlich.“
Natürlich, darum hieß es Schuhladen, dachte ich und beeilte mich, hinterherzukommen.
Als ich sie schließlich eingeholt hatte, hielt sie mir schon ein paar Stiefel unter die Nase.
„Mutti, ich fahre an den Strand. Brauche ich dort Stiefel?“ Ich rollte mit den Augen. Das konnte heiter werden.
„Die sind für mich“, antwortete sie, während sie den Karton aus dem Regal zuppelte und nach einem Stuhl zum Anprobieren Ausschau hielt. „Dass du keine Stiefel brauchst, weiß ich.“ Sie setzte sich und streifte ihre Schuhe von den Füßen. „Obwohl ich mich an deiner Stelle für den Flug nach etwas bequemen umschauen würde.“
Ich gab auf, schüttelte den Kopf und lief ziellos durch die Gänge. Schnell stellte ich fest, dass es ungünstig war, im Winter nach Sommerschuhen zu suchen.
Während Mutter also nach Herzenslust für sich einkaufte, machte ich mich auf die Suche nach einer Verkäuferin und wurde in der letzten Ecke des Schuhladens fündig. Dort standen nämlich gleich drei von ihnen zusammen, hatten die Köpfe zusammengesteckt und erzählten leise miteinander.
Ich näherte mich ihnen und räusperte mich laut, um sie auf mich aufmerksam zu machen… und erhielt nicht den Hauch einer Reaktion.
„Entschuldigung“, versuchte ich es weiter. „Wenn es keine Umstände macht, benötige ich kurz Ihre Hilfe.“
Die drei jungen Frauen sahen zu mir. Ihre Blicke verrieten eindeutig, dass es sehr wohl Umstände machte, wenn ich sie beim Lästern unterbrach.
Ohne mich davon beirren zu lassen, nutzte ich die entstandene Stille aus und fuhr fort: „Ich fahre morgen in den Sommerurlaub und brauche unbedingt Sommerschuhe und einen großen Koffer.“ Selbstbewusst und unnachgiebig. Das war mein neues Ich.
Eine der drei Damen wandte sich sofort ab und begann, Schuhkartons in die Regale zu schieben. Die beiden anderen tauschten einen genervten Blick und drehten sich zu mir.
„Es tut mir leid, aber die Sommerkollektion kommt erst in ein paar Monaten rein“, stellte dann die eine fest.
Es tat ihr definitiv nicht leid. Sie warf mir einen jener Blicke zu, der deutlich machte, dass sie an meiner Intelligenz zweifelte.
Ich reckte mein Kinn in die Höhe und sagte freundlich: „Dessen bin ich mir durchaus bewusst, aber mein Verlobter hat mich vor zwei Tagen, quasi genau vor unserer Hochzeitsreise, betrogen. Nun stehe ich ohne alles da, weil ich ihm in der Verfassung nicht gegenübertreten kann, um meine Sachen zu holen.“ Ich holte tief Luft. „Wenn das kein guter Grund für neue Schuhe ist, weiß ich auch nicht.“
Man konnte doch ruhig mal die Mitleidskarte ausspielen, oder?
Ich zog eine Schnute und hoffte, dass mir nicht wieder die Tränen kommen würden.
Plötzlich kam Leben in die beiden Verkäuferinnen. Sie warfen sich verschwörerische Blicke zu. Verstanden die sich ohne Worte, rätselte ich, bis die eine meine Gedanken unterbrach. „Folgen Sie mir bitte nach vorne, dann zeige ich Ihnen die Koffer, die wir hier haben. Meine Kollegin wird im Lager nachsehen, ob vom letzten Jahr noch Reste an Sommerschuhen da sind. Welche Größe benötigen Sie?“ Im Laufen begutachtete sie meine Hobbitfüße. „36, nehme ich an.“
Wow, sie war gut!
Ich nickte nur und beeilte mich heute schon zum zweiten Male, jemandem nachzulaufen. Wie nett Menschen doch sein konnten, wenn sie mitfühlten.
Als wir vorne neben der Kasse ankamen, zeigte mir die junge Verkäuferin mit einem strahlenden Lächeln die Reisetaschen und Koffer.
„Ist für Sie etwas dabei“, fragte sie mich nach einigen Minuten der Stille.
Nach eingehender Betrachtung der Auswahl zeigte ich auf den einzigen auffälligen Koffer. Den würde ich am Flughafen auf dem Kofferband sofort erkennen, denn er hatte ein Giraffenmuster. Die anderen Reisetaschen in Blau und Schwarz würden mir bei meinem Glück fünf Mal vor der Nase entlangfahren, bevor ich sie erkannte.
„Der Giraffenkoffer soll es sein“, verkündete ich und zeigte notfalls noch mit dem Finger darauf.
„Gute Wahl“, gratulierte mir die Verkäuferin zu meiner Wahl und brachte den Koffer sofort für mich zur Kasse.
In diesem Augenblick kam schon die andere Frau mit zwei Kartons unter dem Arm aus dem Lager zurück.
„Schauen Sie mal, ich habe noch was gefunden“, strahlte sie mich an.Sie überreichte mir die beiden Kartons. In dem oberen befanden sich dunkelgrüne Keilsandaletten, die schon mal nicht schlecht waren. Der Inhalt des unteren Kartons gefiel mir nicht so besonders. Es handelte sich um schwarze Ballerinas mit pinkfarbenen Strasssteinen. Trotzdem probierte ich beide Paare an.
„Flipflops oder ähnliches haben Sie nicht zufällig auch noch da“, fragte ich vorsichtshalber nochmal nach.
Das Strahlen der Verkäuferin erlosch und sie schüttelte bedauernd den Kopf.
„Gut, dann nehme ich die beiden und den Koffer“, beschloss ich und übergab ihr die beiden Schuhkartons. Ich bezahlte und gerade als ich meine Mutter suchen wollte, kam auch sie mit ihrer Ausbeute um die Ecke.
Mein Vater würde vor Freude Luftsprünge vollführen. Noch mehr Treter.
Während sie zahlte, verstaute ich meine Schuhe in meinem schicken neuen Koffer.
Die nächste Station führte uns in ein Unterwäschegeschäft.
Hier bekam ich die volle Aufmerksamkeit der elegant gekleideten älteren Verkäuferin – auch ohne meine Geschichte erzählen zu müssen. Das lief doch wie am Schnürchen. Okay, der Laden war zugebenermaßen auch gähnend leer. Aber ich ließ mir meine positive Einstellung bestimmt nicht verderben.
Wir fanden einen hübschen Bikini mit Perlen, den ich gleich in Türkis und bunt gemustert kaufte, weil er optimal saß. Außerdem landeten diverse BHs, Slips und Dessous in meiner Einkaufstasche. Es kostete mich ein Vermögen, aber daran verschwendete ich keinen Gedanken und ließ meiner Einkaufswut freien Lauf.
„So eine Figur hätte ich auch gern nochmal“, zwinkerte mir die nette Verkäuferin zu, als wir das Geschäft verließen. Was hörte man lieber? Das war Balsam für die Seele.
Als wir pünktlich zur Schließzeit aus dem Parkhaus düsten, waren unsere Bäuche voller Eis und unsere Taschen platzten fast vor lauter Klamotten. Ich war eingedeckt mit langen und kurzen Hosen, Kleidern, Röcken, einer Lederjacke, diversen Tops und Shirts in verschiedenen Formen und Farben (bloß kein rot, dass biss sich mit meinen Haaren). Sogar neonfarbene Flipflops hatte ich in einem Billigladen bekommen.
Abgesehen davon, dass ich nach diesem Tag schlagalle war, stand der Reise morgen nun wirklich nichts mehr im Wege! Zum Glück hatte ich heute so viel geshoppt, dass ich für den Rest des Jahres keinen Fuß mehr in ein Einkaufscenter setzen musste.
Bei meinen Eltern angekommen, mussten Mutter und ich jeweils drei Mal vom Auto zum Haus laufen, um unsere Ausbeute auszuräumen.
„Uff“, machte sie, als sie sich mit ihren letzten prall gefüllten Einkaufstüten durch die Tür zwängte. „Bernd, hilfst du mir mal?“
Vater sah von seinem Kreuzworträtsel auf, die Lesebrille auf der Nasenspitze. Er schmunzelte und ergab sich seinem Schicksal. „Habt ihr den anderen Leuten denn wenigstens etwas übriggelassen?“
Er besah sich die Tüten, die sich im Flur stapelten und schob sie nacheinander mit dem Fuß vor sich her in die Küche. Sein Schmunzeln erstarb.
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