Kopfschüttelnd sah ich ihr nach, als sie davonbrauste und zog dann meinen Koffer durch den Bahnhof, auf der Suche nach dem richtigen Gleis. Die Plastikräder klapperten laut auf dem gefliesten Fußboden und das Geräusch hallte in der leeren Halle nach.
Gerade als ich die Treppe zum Bahnsteig mit meinem ungeheuer schweren Koffer hinaufschlich, klingelte mein Handy. Warum hatte ich so viel eingepackt? Und warum gab es hier keinen Fahrstuhl?
Es war Papa. Der musste jetzt kurz warten.
Schwitzend und laut schnaufend, kämpfte ich mich bis zum Ende der Treppe empor, setzte mich auf den Koffer und rief ihn umgehend zurück.
„Hallo Paps, was gibt‘s denn?“ Dafür, dass ich regelmäßig joggen ging, klang ich aufgrund des rasselnden Atems gerade nicht sonderlich fit.
„Hallo Spatz, ich wollte dir nur eine gute Reise wünschen.“
„Das ist aber lieb von dir.“
„Hast du alles? Hat Mutti dich schon am Bahnhof rausgeschmissen?“ Ich hörte an seiner Stimme, dass er lächelte.
„Ja, ich habe eben den verfluchten Koffer auf den Bahnsteig hochgetragen.“
„Deswegen klingst du, als hättest du Sport gemacht. Das nächste Mal bringe ich dich und nehme dir das Tragen ab.“ Er lachte.
Ich lachte ebenfalls. „Ach, Quark. Mach dir keine Sorgen, ich bin doch schon groß. Mehr oder weniger.“ Ich erhob mich vom Koffer und streckte mich. „Der Zug kommt gleich und ich habe meines Wissens auch nichts vergessen.“
„Alles klärchen. Dann viel Spaß und komm gut hin und zurück“, ermahnte er mich.
„Na sicher doch. Bis in zwei Wochen.“
Als der ICE einige Minuten später in den Bahnhof einfuhr, war ich ein Eiszapfen.
Mein Sitzplatz, pardon unsere Sitzplätze, waren reserviert. Ein netter Mann half mir glücklicherweise mit dem Koffer die drei Stufen hinauf bis in den Zug, wo ich mein Abteil auf Anhieb fand. Hatte ich die sechs Plätze vielleicht für mich allein? Wenn schon nicht in der Liebe und beim Spielen, dann lauerte das Glück möglicherweise hier?
Die mehrstündige Zugfahrt nach Düsseldorf zum Flughafen, die mir bevorstand, war kein Zuckerschlecken. Vor allem, wenn man wusste, dass man danach auch noch eine Ewigkeit im Flieger hocken würde.
Ich wühlte in meiner großen Handtasche herum, fand meinen MP3-Player und stöpselte mir die Kopfhörer in die Ohren, noch bevor der Zug anfuhr. Meine alte Playlist mit Liedern von Britney und den Spice Girls kam mir gerade recht und ich drehte die Lautstärke voll auf.
Aus diesem Grund hörte ich auch den älteren Mann, der in der Abteiltür stand, nicht sofort. Erst als er mit der Hand in meinem Gesichtsfeld herumfuchtelte, bemerkte ich ihn und nahm die Kopfhörer ab.
„Ist hier noch etwas frei, junge Dame“, erkundigte er sich und schaute neugierig in mein Abteil. So viel zum Thema Glück, dachte ich mir, lächelte ihn aber höflich an. Gute Erziehung und so.
„Sie haben freie Platzwahl“, antwortete ich und ließ meine rechte Hand einladend über die Plätze schweifen.
Der Mann setzte sich mir gegenüber ans Fenster und legte seinen grauen Filzhut auf dem Sitzplatz neben sich ab. Dann faltete er seinen hellbraunen Mantel ordentlich zusammen und platzierte ihn neben dem Hut. Als er es sich hinter einer großen Zeitung gemütlich gemacht hatte, stellte ich meine Musik wieder an und sang gedanklich jede Textzeile mit. Die Lautstärke hatte ich natürlich um einiges gedrosselt, um meinen Sitzpartner nicht zu belästigen.
Irgendwann fand ich in meiner Handtasche auch noch eine alte, zerknitterte Klatsch-und-Tratsch-Zeitschrift, die ich eigentlich für die Mittagsruhe im Kindergarten gekauft hatte. Wenn die Kinder tatsächlich mal schliefen, konnte die Ruhezeit im Kindergarten ziemlich langweilig werden. Das Heftchen war mittlerweile ziemlich lädiert, aber ich führte es mir trotzdem zu Gemüte. Die Titelgeschichte befasste sich mit der Scheidungsschlacht eines sehr berühmten Paares, das drei Kinder zusammen hatte. Die Kleinen konnten einem wirklich leidtun.
Plötzlich musste ich an meinen kleinen Moses denken, den ich schrecklich vermisste, und betete, dass Mike ihn gut versorgte während meiner Abwesenheit. Er würde den Kater doch hoffentlich nicht vernachlässigen, um mir noch ein weiteres Mal eins auszuwischen?
Wenn ich so darüber nachdachte, ähnelte unsere Situation der des Hollywood-Paares stark – abgesehen davon, dass wir nicht millionenschwer waren, drei Kinder adoptiert hatten und ein Haus auf jedem Kontinent besaßen. Woher nahmen die Menschen nur die Kraft, so eine Schlammschlacht durchzuziehen und die Scheidung einzureichen?
Aber hey, immerhin würde ich keine Scheidung verlangen müssen. Eigentlich konnte ich von Glück reden, dass die ganze Geschichte mit Mike und Anna vor unserer Hochzeit aufgeflogen war! Das ersparte mir zumindest einen Teil der Schmach und Behördengänge.
Das klappte doch schon ganz gut mit dem positiven Denken, oder?
Aber was hielt die Zukunft nun für mich bereit? Blühte mir der totale Oberstress wegen der Trennung, wenn ich in zwei Wochen aus dem Paradies zurückkam? Was sollte aus unserem gemeinsamen Reihenhäuschen werden? Wer von uns hatte eigentlich den Mietvertrag unterschrieben? Wie so oft war ich damals allein zum Besichtigungstermin erschienen, weil Mike bis spät in den Abend hineingearbeitet hatte.
Über eine Sache war ich mir zumindest zu einhundert Prozent sicher. Mein pelziges Katzenkind Moses wollte ich unbedingt bei mir haben. Unter keinen Umständen würde ich ihn Mike überlassen. Vorsichtshalber sollte ich mein Katerchen direkt nach dem Urlaub zu mir holen. Aber bei meinen Eltern ging das nicht.
Hmm…
À propos Mike. Müsste er sich nicht langsam voller Reue bei mir melden? Auf Knien angekrochen kommen, seinen Fehler zutiefst bedauern, um Vergebung betteln und mir seine tiefe Liebe gestehen? So war das doch immer in romantischen Filmen und Bestseller-Büchern? Dort bemerkten die Männer immer wahnsinnig schnell, welchen Bockmist sie verbrochen hatten. Sie wussten zwar immer erst, was sie verloren hatten, wenn es zu spät war, aber am Ende war trotzdem wieder alles gut.
Aber mal weitergesponnen im Text. Wollte ich ein Happy End? Konnte ich verzeihen, was mir von dem Mann, den ich über alles auf der Welt liebte, angetan worden war? Konnte ein solcher Vertrauensbruch einer fortgesetzten Beziehung nicht schaden?
Ich konnte und mochte mir zumindest in diesem Augenblick nicht vorstellen, dass ich einen Seitensprung vergessen konnte. Würde der nicht bei jedem zukünftigen gemeinsamen Abendessen mit am Tisch sitzen? Würde nicht bei jeder Intimität plötzlich Anna in meine Gedanken schleichen? Würde ich überlegen, wo Mike sie berührt hatte? Würde ich mir womöglich sogar die Frage stellen, ob sie besser im Bett (oder auf dem Esstisch) gewesen war, als ich es je sein würde? So konnte doch keine Beziehung funktionieren?
Gedankenversunken saß ich also im Zug und sinnierte vor mich hin.
Nach einer halben Stunde ermahnte ich mich gedanklich dazu, auf die Pausetaste zu drücken. Das Hin und Her in meinem Kopf führte zu keinem Ergebnis. Es verdunkelte nur meine Laune, aber ich war doch jetzt die neue , positive Kati.
Den guten Vorsatz hielt ich geschlagene fünf Minuten durch, bis ich mein Handy hervorkramte. Der Neugier wegen mal auf das Display zu schauen, konnte nicht schaden, ermutigte ich mich.
Natürlich hatte ich keine einzige Nachricht, keinen Anruf, kein Lebenszeichen. Weder Mike noch Anna hatten sich also seit dem Vorfall auf dem Esstisch gemeldet. Ich musste zugeben, dass es mich traf. Es tat weh. Darauf zu hoffen, dass etwas eintrat, ohne dass es tatsächlich passierte, war doch wirklich hoffnungslos.
Und wenn ich kurz bei Facebook nachsah, ob sie etwas gepostet hatten?
Mein Kopf sagte mir laut und deutlich, dass ich es lassen sollte. Es würde nichts Gutes dabei herumkommen. Mein Bauch war jedoch anderer Meinung. Wider besseres Wissen schwebte mein Finger für lange Sekunden über dem Facebook-Button, bis er ihn schließlich drückte. Rasch tippte ich Mikes Namen in das Suchfeld ein und … nichts passierte. Hatte er mich etwa entfreundet?
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