Die Mitarbeiter der Spurensicherung mussten ihre Arbeit in der unmittelbaren Umgebung der Leiche abgeschlossen haben, denn sie machten sich nun daran, den Leichnam zu bergen. Einer der Männer, die einen hellgrauen Einmal-Overall mit übergezogener Kapuze und der Rückenaufschrift Polizei trugen, stieg auf eine Aluminium-Leiter, die man neben dem sachte hin und her pendelnden Leichnam aufgerichtet und gegen den dicken Ast gelehnt hatte, um den auch der Strick gebunden war, an dessen unterem Ende der Tote hing. Der Beamte schnitt den Strick an der Oberseite des Astes durch, um die Knoten nicht zu zerstören. Denn falls es sich um Mord handelte und der Mörder die Knoten geknüpft hatte, konnten sie unter Umständen wichtige Hinweise auf seine Person liefern. Zwei Kollegen des Mannes auf der Leiter, die unter dem Leichnam standen, nahmen diesen in Empfang, als er, seines Haltes beraubt, nach unten plumpste, und legten ihn erstaunlich behutsam und rücksichtsvoll auf den Boden.
Schäringer beobachtete, wie der Gerichtsmediziner Dr. Mangold, der ungeduldig am Rand des von der Spurensicherung untersuchten Bereichs darauf gewartet hatte, dass er endlich in Aktion treten konnte, zu dem Toten ging. Er ließ sich neben ihm in die Knie sinken, stellte seine Arzttasche ab und begann mit der ersten Untersuchung.
Schäringer gähnte hinter vorgehaltener Hand, denn er war noch immer etwas müde, nachdem der Anruf des diensthabenden Kollegen vom Kriminaldauerdienst ihn vor seiner üblichen Zeit aus dem Bett geholt hatte. Er sah sich um, um sich ein Bild von der Umgebung zu machen, und drehte sich dabei einmal um die eigene Achse.
Die Stelle, an der sich der Feldweg gabelte, befand sich im Süden der Ortschaft Landsberied, die etwa 20 Kilometer westlich von Fürstenfeldbruck lag. Die Eiche war der einzige größere Baum weit und breit und stand zwischen den beiden Ästen der Weggabelung, die beide nach Süden führten, wo in einem Kilometer Entfernung der Fürstenfelder Wald begann. Der eindrucksvolle Baum war mindestens 20 Meter hoch, und der Stamm besaß einen Durchmesser von ungefähr 5 Metern. Schäringer schätzte daher, dass die Eiche schon an die 400 Jahre alt sein konnte. Unter den ausladenden Ästen des Baums stand eine Holzbank, auf der sich müde Spaziergänger ausruhen konnten. Daneben befand sich ein hölzernes Marterl, wie Wegekreuze in Bayern genannt werden, die meist aufgrund eines Gelübdes aus Dankbarkeit wegen der Rettung aus einer großen Notlage, beispielsweise Krieg, Krankheit oder Seuche, gestiftet und errichtet worden waren. Außer der Eiche, der Bank und dem Marterl gab es hier im Umkreis von mindestens einem Kilometer nichts Augenfälliges, denn rechts und links der Feldwege lagen nur Äcker mit unterschiedlicher Bepflanzung und in verschiedenen Reifestadien.
Die Fahrzeuge all derjenigen, die an diesem Morgen ausschließlich aus beruflichen Gründen den Weg an diesen Ort gefunden hatten, der um diese Zeit ansonsten vermutlich ebenso einsam und verlassen gewesen wäre wie ein Mondkrater, nun aber nahezu überlaufen wirkte, waren allesamt ordentlich auf einer Seite des Feldwegs abgestellt worden, auf dem Schäringer stand und der von Landsberied zur Gabelung führte. Es handelte sich um zwei Streifenwagen, den Kleintransporter der Spurensicherung und einen Leichenwagen des örtlichen Bestatters, in dem der Tote weggebracht werden würde, sobald Dr. Mangold die Untersuchung beendet und die Leiche zum Abtransport freigegeben hatte. Der Fahrer und der Beifahrer standen neben ihrem Fahrzeug, dessen Heckklappe bereits erwartungsvoll offen stand und einen Blick auf den leeren Transportsarg auf der Ladefläche erlaubte, warteten auf ihren Einsatz und unterhielten sich. Einer der Männer rauchte eine Zigarette und trank aus einer Flasche zuckerarme Cola, während der andere sich eine Butterbreze schmecken ließ. Hinter dem Leichenwagen standen vier zivile Fahrzeuge. Schäringer kannte die beiden vorderen, bei denen es sich um den Dienstwagen von Christian Krautmann, dem Leiter der Abteilung Spurensicherung und -verwertung, und das Privatfahrzeug von Dr. Mangold, einen relativ neuen Mercedes SLK 250 Roadster, handelte, und das letzte Fahrzeug, den BMW, mit dem sein Kollege und er wieder einmal als Letzte zum Tatort gekommen waren. Das Fahrzeug unmittelbar vor ihrem Dienstwagen, ein weiterer BMW 316i, kannte er allerdings nicht.
»Wem gehört eigentlich der BMW vor unserem?«, fragte er deshalb seinen Kollegen, Kriminalkommissar Lutz Baum, der neben ihm stand. Baum bekam um diese Tageszeit üblicherweise kaum die Augen auf und hielt sich deshalb, um nicht umzukippen, an einem riesigen Becher Kaffee fest, den er von zu Hause mitgebracht hatte, wo Schäringer ihn vor knapp fünfundzwanzig Minuten persönlich abgeholt hatte, damit er nicht wieder erst dann am Tatort eintrudelte, wenn alle anderen schon einpackten und die Leiche längst in einem Sektionsraum der Gerichtsmedizin lag.
Die beiden Kriminalbeamten der Mordkommission, die nun schon seit 6 Jahren zusammenarbeiteten, waren sehr unterschiedlich, sowohl im Hinblick auf ihre körperliche Erscheinung als auch hinsichtlich ihres Charakters. Schäringer war ein Meter neunzig und sehr schlank, wodurch er noch größer wirkte. Er besaß trotz seiner 57 Lebensjahre noch immer dichtes, aschblondes Haar mit nur wenigen Spuren von Grau. Der 38-jährige Baum war hingegen mittelgroß und wirkte neben seinem Kollegen sogar noch kleiner. Er hatte kurz geschnittenes, lockiges, karottenrotes Haar und neigte aufgrund seiner Vorliebe für reichhaltige Mahlzeiten, Süßigkeiten zwischen den Mahlzeiten und schlechten Automatenkaffee zwischen den Mahlzeiten und den Süßigkeiten und einer damit einhergehenden Abneigung für jegliche Form der körperlichen Ertüchtigung zum Übergewicht, was sich vor allem im Bereich von Bauch und Hüften und in seinem rosigen Gesicht zeigte. Auf dem rechten Handrücken hatte Baum eine drei Zentimeter lange, weiße Narbe, ein Andenken an einen früheren Fall, an den er nur ungern erinnert wurde, als er sich an den Scherben einer zerbrochenen Terrariumtür geschnitten hatte. Von dem Biss der harmlosen Kornnatter, den er sich bei dieser Gelegenheit ebenfalls zugezogen und von dem er geglaubt hatte, er würde ihn sein junges Leben kosten, war hingegen nichts mehr zu sehen. Baum bevorzugte Markenkleidung und trug an diesem Tag eine Boxy-Powell -Jeans von Jack & Jones , einen in den Farben Schwarz und Weiß quergestreiften Pullover mit V-Ausschnitt von Bruno Banani und Slipper von Hush Puppies . Über dem Pulli trug er seine obligatorische schwarze Lammlederjacke von Just Cavalli , ohne die er nicht aus dem Haus ging. Die Jacke allein hatte mehr gekostet als Schäringers komplette Garderobe, der auch an diesem Tag einen seiner gewohnten 2-teiligen Anzüge trug, die er vor ein paar Jahren in den Farben braun, mittelgrau, mitternachtsblau und schwarz bestellt hatte. Heute war der braune Anzug an der Reihe, dazu ein weißes Hemd, eine beigefarbene, schmale Krawatte und schwarze Schnürschuhe. Schäringer liebte komplizierte Fälle voller Rätsel, die ihn vor intellektuelle Herausforderungen stellten. Er dachte gern um die Ecke und versuchte stets, alle Begleitumstände eines Falles einschließlich zunächst nebensächlich erscheinender Details gleichzeitig im Auge zu behalten und miteinander in Verbindung zu bringen. Baum war hingegen der Meinung, sein Kollege würde zu kompliziert denken und sich trotz seiner Erfolge zu leicht und zu oft in Nebensächlichkeiten verrennen. Er selbst konzentrierte sich bei ihren Ermittlungen daher vor allem aus Bequemlichkeit lieber auf das Wesentliche und sah ungern über den Rand des Tellers, auf dem er saß, hinaus. Aber trotz oder vielleicht sogar gerade wegen all ihrer Gegensätzlichkeiten bildeten sie im Großen und Ganzen ein harmonisches und erfolgreiches Team.
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