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LESEPROBE
»Das macht dann 17 Euro 80, Frau Moritz.«
Elisabeth Moritz runzelte unzufrieden die ohnehin faltige Stirn. Der Einkauf beim Metzger wurde auch jedes Mal teurer. Fast 18 Euro für ein paar Scheiben Salami und Lachsschinken, zwei Paar Wiener und das bisschen Geschnetzelte, das sie mittags für Hannes und sich selbst zum Essen machen wollte. Aber was soll’s? , dachte sie. Wenn man gute Qualität haben will, muss man eben auch ein bisschen tiefer in die Tasche greifen! Und die Alternative, die darin bestand, ihre Fleisch- und Wurstwaren in Zukunft im Supermarkt und nicht mehr bei ihrem Stammmetzger zu kaufen, bei dem sie seit mindestens dreißig Jahren Kundin war, kam für sie nicht infrage.
Also schenkte sie der übergewichtigen Metzgereifachverkäuferin hinter der Theke, deren schwarz gefärbte Haare an den Ansätzen schon wieder grau waren, das einstudierte Lächeln, das sie bei jeder Gelegenheit und in jeder Stimmung hervorzaubern konnte und auch den Kunden ihres Gästehauses zeigte, egal, wie nervtötend diese gerade waren, und zog einen 20-Euro-Schein aus ihrem Portemonnaie.
»Dann bekommen Sie von mir noch 2 Euro 20 zurück«, sagte die Verkäuferin, als wäre Elisabeth senil und nicht mehr selbst in der Lage, auszurechnen, wie viel sie herausbekam, und legte ihr das Wechselgeld in die ausgestreckte Handfläche. »Danke für Ihren Einkauf, Frau Moritz, und beehren Sie uns doch bald wieder.«
»Vielen Dank und auf Wiedersehen«, sagte Elisabeth Moritz, ohne die junge Frau daran zu erinnern, dass sie nun schon seit vielen Jahren jeden Freitagvormittag in die Metzgerei kam, obwohl sie große Lust verspürte, genau das zu tun.
Doch es wäre der Mühe nicht wert gewesen, denn die Verkäuferin hatte sich bereits von ihr weggedreht und den anderen Kunden zugewandt. »Wer kommt als Nächstes dran?«
Elisabeth wandte sich also ohne ein weiteres Wort um und verstaute ihr Portemonnaie und die Tüte mit der Wurst und dem Fleisch in ihrer Einkaufstasche, die sie unter dem linken Arm trug.
Obwohl sie im kommenden Winter erst ihren 68. Geburtstag feierte, sah sie mindestens fünf Jahre älter aus. »Das sind Sorgenfalten«, pflegte sie stets vorauseilend zu sagen, da es natürlich niemand wagte, die Falten von sich aus zu erwähnen. Weder die Falten noch das silbergraue Haar, das schulterlang war, von ihr aber meistens am Hinterkopf zu einem altmodischen Knoten geflochten wurde, der sie noch strenger aussehen ließ. Außerdem war sie für eine Frau erstaunlich groß, beinahe 1,80, dafür aber sehr dünn, und hatte spinnenartige, dürre Gliedmaßen.
»Daran sind die unzähligen Sorgen, die mir Hannes bereitet, die viele Arbeit im Gästehaus und der ständige Stress schuld«, sagte sie jedem, selbst denen, die es gar nicht wissen wollten. »Nur deshalb bin ich vorzeitig ergraut, habe mehr Falten im Gesicht als der Grand Canyon und wiege trotz meiner Größe weniger als fünfzig Kilo.«
Elisabeth nickte einer flüchtigen Bekannten zu, die in der Schlange vor dem Tresen stand, deren Name ihr aber partout nicht einfallen wollte. Der Frau, die nur unwesentlich jünger als sie selbst war, war anzusehen, dass sie nichts gegen ein kleines Schwätzchen einzuwenden hatte, um sich die Wartezeit zu verkürzen. Doch Elisabeth stand augenblicklich nicht der Sinn danach, sich einzig um des Redens willen über oberflächliche Themen zu unterhalten. Außerdem wäre es ihr zu peinlich, wenn sie die andere Frau nicht mit ihrem Namen ansprechen konnte. Was die dann wohl von mir denken würde? , fragte sie sich. Vermutlich, dass ich langsam dement werde oder Alzheimer kriege. Aber derartige Gerüchte wollte sie erst gar nicht aufkommen lassen. Deshalb warf sie einen demonstrativen Blick auf ihre Armbanduhr, bevor sie ihrer Bekannten einen bedauernden Blick zuwarf und eilig an ihr vorbei zur Tür schritt.
Elisabeth, die ein marineblaues Kleid, einen dazu passenden gleichfarbigen Blazer und bequeme, flache Schuhe trug, verließ die Metzgerei und blieb dann auf dem Bürgersteig stehen, um zu überlegen, ob sie auch tatsächlich alles erledigt hatte, was sie sich zu Hause vorgenommen hatte. Wie üblich hatte sie ihre freitägliche Einkaufstour im Supermarkt begonnen. Nachdem sie ihre dortigen Einkäufe im Auto verstaut hatte, war sie zu Fuß zum Bäcker und zum Metzger gegangen. Danach kehrte sie in der Regel zum Wagen zurück und fuhr nach Hause.
Moment!
Ihr fiel ein, dass sie noch zur Apotheke musste, um sich neue Schmerztabletten zu besorgen. Seit Kurzem hatte sie des Öfteren stechende Kopfschmerzen, gegen die die Tabletten, die sie zu Hause hatte, nichts ausrichteten. Noch machte sie sich keine Sorgen, es könnte etwas Ernsthaftes dahinterstecken. Außerdem hoffte sie, dass Tabletten mit einem anderen, eventuell stärkeren Wirkstoff ihr Leid linderten. Wenn die Schmerzattacken allerdings anhielten, würde sie wohl oder übel zum Arzt gehen müssen. Dabei gab es auf dieser Welt wenig, was Elisabeth mehr hasste und fürchtete als Ärzte. Was allerdings weniger an den Medizinern lag, sondern eher an Elisabeths ständiger Angst, sie könnten bei ihr eine schwere, unter Umständen sogar tödliche Krankheit diagnostizieren.
Da sie nicht länger als unbedingt nötig an tödliche Krankheiten denken wollte, sah sie sich suchend um. Die nächstgelegene Apotheke lag etwas versetzt auf der anderen Straßenseite und praktischerweise auf ihrem Weg zum Parkplatz, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte. Elisabeth hielt nach einem Zebrastreifen Ausschau, doch der lag mindestens zweihundert Meter in der anderen Richtung, was nicht nur einen Umweg, sondern auch einen Zeitverlust bedeutet hätte. Sie hatte es zwar nicht eilig, doch je früher sie nach Hause und zurück in ihr Büro kam, desto früher konnte sie sich auch um diverse Angelegenheiten kümmern, die sie heute noch zu erledigen hatte. Sie sah erneut auf die Uhr, dieses Mal jedoch nicht, um jemandem vorzutäuschen, sie hätte es eilig, sondern weil sie tatsächlich wissen wollte, wie spät es war. Viertel vor zehn. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch einiges tun, bevor sie nach einem kurzen Mittagsschläfchen für Hannes und sich selbst Essen kochen musste.
Elisabeth hatte ihren Mann Franz-Xaver erst im reifen Alter von dreißig Jahren kennengelernt. Danach war allerdings alles Weitere Schlag auf Schlag und in einem nahezu perfekten 12-Monats-Rhythmus erfolgt, denn ein Jahr später hatten sie geheiratet, im Jahr drauf war ihr Sohn Hannes zur Welt gekommen und elfeinhalb Monate später hatte Franz-Xaver, der zu diesem Zeitpunkt erst 35 Jahre alt war, einen tödlichen Herzinfarkt erlitten. Nach seinem Tod hatte sich die Witwe ganz allein um das Gästehaus und ihren Sohn kümmern müssen. Mit viel Fleiß, harter Arbeit und noch mehr Durchsetzungsvermögen hatte Elisabeth es nicht nur geschafft, das Gästehaus vor dem Ruin zu bewahren, sondern auch von Jahr zu Jahr erfolgreicher zu werden. Bei der Erziehung ihres Sohnes war sie allerdings weniger erfolgreich gewesen. Normalerweise erbten Kinder von ihren Eltern sowohl gute als auch schlechte körperliche und charakterliche Merkmale, doch Hannes schien von Vater und Mutter nur die schlechten Dinge mitbekommen zu haben. Denn allzu schnell nach der Einschulung stellte sich heraus, dass er absolut keine Begabungen besaß. Hannes konnte im Grunde gar nichts, weder gut lesen, schreiben oder rechnen, noch zeichnen, malen, werken oder sporteln. Er war praktisch ein Versager auf ganzer Linie und schaffte es nicht einmal, die Schule ordentlich abzuschließen. Ohne Schulabschluss war an eine anschließende Lehre natürlich nicht zu denken. Aber zum Glück besaß er wenigstens ein Mindestmaß an handwerklichem Geschick, sodass Elisabeth ihn als Hausmeister im Gästehaus einsetzen konnte. Ihr graute allerdings vor dem Tag, an dem sie sterben und Hannes zwangsläufig das Gästehaus erben würde. Vermutlich würde er alles, was sie in den letzten 34 Jahren aufgebaut und erreicht hatte, in kürzester Zeit zerstören. Er lag ihr in letzter Zeit ohnehin schon ständig in den Ohren mit der wahnwitzigen Bitte, ihm die Leitung des Gästehauses schon jetzt, zu ihren Lebzeiten, zu übertragen und sich zur Ruhe zu setzen. Als wenn sie dann tatsächlich ihre Ruhe gehabt hätte. Aber das konnte er sich abschminken. Freiwillig würde sie ihm das Gästehaus bestimmt nicht übertragen. Wenn, dann musste er es ihr schon aus ihren kalten, starren Händen reißen.
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