Hinterher konnte er sich an keine Einzelheiten mehr erinnern, wofür er dankbar war. Er wusste nur noch, dass ihm in diesem Moment klar wurde, dass die Person im Inneren des Wagens mausetot sein musste und gar nicht mehr in der Lage sein konnte, sich zu bewegen. Vermutlich waren nur ihre Muskeln und Sehnen unter dem Einfluss der mörderischen Hitze geschrumpft, sodass sich der verkohlte Schädel in Richtung Fenster geneigt hatte. Und obwohl Michi das erkannte, hatte er dennoch das Gefühl, der Leichnam hätte ihm grüßend zugenickt.
Als sich der lodernde Vorhang wieder schloss und ihm die Sicht verwehrte, wurde Michi sich endlich wieder bewusst, dass er einen Körper hatte und sich bewegen konnte. Außerdem wurde ihm so übel wie noch nie in seinem fünfzehnjährigen Leben. Er wirbelte herum, lief ein paar Schritte, bis die Hitze erträglicher war und nur noch seinen Rücken wärmte. Es gelang ihm gerade noch, sich den Helm vom Kopf zu reißen. Dann konnte er die Gummibärchen, die Chips und die Cola, die er bei Max bekommen hatte, nicht mehr länger bei sich behalten. Als er sich nicht mehr würgend übergeben musste, war ihm zwar immer noch übel, doch wenigstens war der Brechreiz weg. Er wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und ging auf wackligen Beinen zurück zu seinem Roller. Dabei vermied er es, noch einen Blick auf den brennenden BMW zu werfen. Er hatte viel zu viel Angst, er könnte auf dem Beifahrersitz oder den Rücksitzen noch weitere schwarz verkohlte Leichen entdecken, die sich bewegten und ihn dann bis in seine Albträume verfolgen würden. Er setzte sich auf den Roller und holte sein Handy heraus. Nachdem er es angemacht hatte, sah er, dass er sechs Anrufe von seiner Mutter bekommen hatte. Aber die war momentan seine geringste Sorge. Statt die Feuerwehr anzurufen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, wählte er die 110. Schließlich saß ein toter Mensch im Wagen, für den jede Rettung zu spät kam, und dafür war seiner Meinung nach in erster Linie die Polizei zuständig.
Dilegua, o notte! Tramontate, stelle! Tramontate, stelle! All’alba vincerò! Vincerò! Vincerò!
(Die Nacht entweiche, jeder Stern erbleiche! Jeder Stern erbleiche, damit der Tag ersteh und mit ihm mein Sieg!)
Er summte die Opernarie Nessun dorma , die den britischen Handyverkäufer Paul Potts in der Castingshow Britain’s Got Talent 2007 schlagartig berühmt gemacht hatte, ergänzte den italienischen Text allerdings nur in Gedanken, während er unter der Dusche stand und sich den Schaum aus dem vollen, mittelblonden Haar spülte. Zu Hause sang er die Arie immer laut, wenn er duschte, obwohl seine Frau und die Kinder ihn hinterher immer damit aufzogen. Natürlich wusste er selbst, dass er nicht so gut singen konnte wie Paul Potts , seiner Meinung nach klang es aber auch nicht so schlecht, wie sie sagten. Trotzdem hätte er es nie gewagt, an einem Ort wie diesem, dem Bad seines Gästezimmers, laut zu singen, weil er keinen der anderen Gäste stören wollte.
Gerhard Biermann hörte auf zu summen und stellte das Wasser ab. Dann öffnete er die Tür der Duschkabine und griff nach dem Handtuch, das er in der Nähe bereitgelegt hatte, um sich abzutrocknen. Während er das tat, dachte er über den Tag nach, der bald zu Ende gehen würde.
Er war eigentlich recht erfolgreich verlaufen, denn er hatte heute sämtliche Termine einhalten und eine ganze Reihe von Ärzten und Apotheken in und um Fürstenfeldbruck besuchen können. Morgen würde er nach Möglichkeit den Rest auf seiner Liste abhaken, bevor er zum nächsten Ort weiterzog. Gerhard war Pharmaberater und lebte mit seiner Frau Heike und den beiden Kindern Sarah und Niklas in Mannheim. Nach seinem letzten Termin bei einem Allgemeinmediziner war es bereits dunkel geworden. Also fuhr er gleich zum Gästehaus, in dem er im Lauf des Tages eingecheckt hatte, ging dort auf sein Zimmer und rief zu Hause an, damit er noch mit den Kindern sprechen konnte, bevor sie ins Bett gingen. Danach unterhielt er sich noch eine Weile mit seiner Frau. Zum Schluss versicherten sie sich gegenseitig, wie sehr sie den anderen liebten und vermissten, und beendeten das Gespräch. Anschließend ging Gerhard zu einem späten Abendessen in ein italienisches Restaurant in der Nähe und trank zwei Gläser Wein zu seiner Pizza. Obwohl er danach schon recht müde war und sich am liebsten nur noch ins Bett gelegt hätte, ging er dennoch wie jeden Abend unter die Dusche.
Als er sich abgetrocknet hatte, trat er aus der Duschkabine und vor den Spiegel, der beschlagen war. Er nahm ein Handtuch und wischte ein Oval in der Mitte der spiegelnden Fläche frei. Obwohl schon viele behauptet hatten, Gerhard sähe so unscheinbar aus, dass man sein Gesicht schon wieder vergessen hatte, sobald er aus dem Zimmer gegangen war, war er dennoch zufrieden mit dem, was er sah. Und Heike war es wohl auch, sonst hätte sie ihn bestimmt nicht geheiratet. Er hatte kurzes mittelblondes Haar, ein glatt rasiertes, gleichmäßiges Gesicht ohne besondere Merkmale und blassgraue Augen. Außerdem war er von durchschnittlicher Größe und Statur.
Gerhard nahm die Bürste und kämmte sein trocken gerubbeltes Haar. Dann sprühte er sich Deo unter die Arme. Fertig! Jetzt konnte er sich endlich ins Bett legen und schlafen, denn morgen war bestimmt wieder ein anstrengender und langer Tag.
Er öffnete die Tür und trat in den schmalen Flur, der von der Zimmertür zum Gästezimmer führte. Da er das Licht hatte brennen lassen, sah er sofort den Eindringling, der neben dem Bett stand und augenscheinlich auf ihn gewartet hatte, denn er sah ihn erwartungsvoll an.
»Wer sind Sie?«, fragte Gerhard aufgebracht. Trotz seiner Entrüstung fühlte er sich unwohl, da er nur ein Handtuch um die Hüften trug und sich darin entblößt und nackt vorkam. »Und was haben Sie in meinem Zimmer zu suchen?«
Der andere Mann sagte nichts, sondern starrte ihn nur an. Dann hob er die Hand, die er bislang hinter seinem Körper verborgen gehalten hatte, sodass Gerhard zum ersten Mal das große Küchenmesser sehen konnte, das der Fremde bei sich hatte. Gerhard schloss für einen Moment die Augen, als sich das Licht der Deckenlampe in der Klinge spiegelte und ihn blendete.
»Was wollen Sie von mir?«
»Das weißt du ganz genau, Ladykiller !«
Gerhard war verwirrt. Was sollte das? Und wer bitte schön war dieser Ladykiller , von dem der andere sprach? Er verspürte den drängenden Impuls, sich augenblicklich herumzuwerfen, zur Tür zu rennen und fluchtartig das Zimmer zu verlassen. Doch ein anderer Teil seines Verstandes überzeugte ihn davon, dass es vermutlich besser war, dem anderen klarzumachen, dass er sich geirrt hatte, im falschen Zimmer gelandet war und demzufolge auch den falschen Mann bedrohte. Es war der Teil von ihm, der auch der Ansicht war, dass man durch ein vernünftiges Gespräch jedes Problem lösen konnte.
»Sie täuschen sich«, sagte er daher. »Ich bin nicht der, für den Sie …«
Weiter kam er jedoch nicht, da er plötzlich von hinten an den Armen gepackt wurde.
»Was …«
Im nächsten Augenblick wurde ihm etwas über den Kopf gezogen. Es fühlte sich nach einem Stoffsack oder Kissenbezug an. Trotz der Angst, die ihn erfüllte, war Gerhard froh, dass es wenigstens kein Plastikbeutel war und er noch immer atmen konnte. Der Stoff war nicht völlig undurchsichtig, und so konnte er schemenhaft erkennen, dass der Mann mit dem Messer auf ihn zukam. Gerhard wand sich und versuchte verzweifelt, seine Arme aus den Griffen der Personen zu befreien, die hinter ihm standen und die er zunächst gar nicht wahrgenommen hatte. Bei einem, vermutlich demjenigen, der ihm auch den Sack über den Kopf gestülpt hatte, gelang es ihm sogar. Er riss die rechte Hand im gleichen Moment hoch, als der Mann vor ihm auf ihn einstach. Die Klinge traf seine Handkante und schnitt tief ins Fleisch, bis sie auf einen Knochen traf. Gerhard schrie vor Schmerz, aber wenigstens hatte er das Messer aufhalten können, bevor es in seinen Leib fuhr und Schlimmeres anrichtete.
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