Seine Bewegungen wurden immer verbissener. Er ahnte, dass er seinem Ziel nahe war. Er konnte es kaum erwarten, dass seine Mühen und die Ungewissheit ein Ende fanden, hatte gleichzeitig aber auch furchtbare Angst davor, genau das zu finden, was er befürchtete. Erneut trieb er die Spitze des Spatens besonders tief in die Erde, indem er mit dem rechten Fuß auf die Kante des Schaufelblatts trat und es in den Boden drückte. Als er den Stiel wie einen Hebel nach unten drückte, um die Erde zu lockern, ließ er sich im ersten Moment keinen Millimeter bewegen. Er befürchtete schon, der Spaten könnte feststecken, und wollte ihn herausziehen, da spürte er, wie die Erde doch noch unter dem Druck nachgab. Er hob den Erdbrocken, der schwerer war als alle bisherigen Ladungen, mit der Schaufel aus dem Loch und ließ ihn daneben zu Boden fallen.
Erneut musste er für einen Moment verschnaufen, bevor er weitergraben konnte. Er sah nach unten, um seinen Fortschritt zu begutachten. Seine letzten Bemühungen nach der Pause waren effektiver gewesen als das planlose, hektische Buddeln zuvor. Er hatte dadurch bereits ein knietiefes Loch geschaffen. Niklas sah, dass die Erde am Rand bröckelte und nach unten rieselte. Noch während er zusah, löste sich ein größerer Erdbrocken und purzelte zum Grund des Lochs. Und aus der Lücke, die dadurch an der Seitenwand des Lochs entstanden war, klappte wie ein makabrer Scherzartikel eine leichenblasse, menschliche Hand herunter.
Ihm stockte der Atem, während auch das hämmernde Herz in seiner Brust vor Schreck mehrere Schläge ausließ, ehe es in noch schnellerem Tempo weitergaloppierte. Er stöhnte leise, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Der Griff des Spatens entglitt seinen gefühl- und kraftlosen Fingern. Gleichzeitig gaben seine zitternden Knie unter dem Gewicht des Körpers nach und knickten ein. Er fiel auf die Knie, während er weiterhin wie gebannt auf den menschlichen Körperteil starrte, der so plötzlich, aber gleichzeitig nicht wirklich überraschend an diesem Ort zum Vorschein gekommen war.
Die Hand und der sichtbare Teil des Gelenks waren so weiß, dass sie im fahlen Licht des Mondes, das durch eine Lücke im Geäst auf sie fiel, beinahe zu leuchten schienen. Er hatte eine solche Hautfarbe noch nie bei einem Menschen gesehen. Allerdings hatte er auch noch nie eine echte Leiche zu Gesicht bekommen. Nur einige kreisrunde, dunkle Flecken auf der Handfläche, an den Spitzen mancher Finger und an den empfindlicheren Stellen zwischen den Fingern, die wie Brandmale aussahen, störten die ansonsten beinahe makellose Weiße. Das Handgelenk endete dort, wo es in den Unterarm mündete und in der Erde verschwand, und es sah auf den ersten Blick beinahe so aus, als wäre die Hand vom Rest des Körpers abgetrennt worden, der noch immer im Boden vergraben war. Das, was er vor sich sah, war nur ein kleiner Teil, der wie die Spitze eines Eisbergs aus der Erde ragte.
Er schauderte, als er zaghaft seine eigene rechte Hand in Richtung der leichenblassen Hand ausstreckte. Er schlotterte am ganzen Körper, und das nicht nur wegen der kühlen Brise, die den Schweiß auf seinem Körper trocknete und ihn frösteln ließ. Als seine eigenen, gut durchbluteten Fingerspitzen nur noch wenige Zentimeter von den blutleeren Fingern der Leiche entfernt waren, zuckte er unwillkürlich zurück.
»Nein!« , schalt er sich augenblicklich selbst und flüsterte dabei automatisch, als hätte er Angst, er könnte durch ein lautes Wort den Leichnam, dem die Hand gehörte, wieder zu gespenstischem Leben erwecken und dazu veranlassen, sich aus seinem kühlen Grab zu erheben. Er wusste natürlich, dass diese Vorstellung absurd war, und redete sich ein, er würde nur wegen der Nachbarn und des Grundstückseigentümers flüstern, die ansonsten auf sein Tun aufmerksam werden könnten. Dabei wusste er genau, dass dieser Ort ziemlich abgeschieden war und sie ihn um diese Uhrzeit vermutlich nicht einmal dann hören könnten, wenn er lauter sprechen würde. »Du musst es tun!«, fuhr er, noch immer wispernd, aber in beschwörendem Tonfall fort. »Du musst dir Gewissheit verschaffen!«
Auch wenn dich die Gewissheit umbringt? , fragte die Stimme der Vernunft in seinem Verstand, die an diesem Abend allerdings bislang kein Gehör gefunden hatte. Und auch in diesem Moment ignorierte er sie, so als hätte er die berechtigte Frage gar nicht gehört. »Du musst!«, sagte er noch einmal, diesmal ein wenig lauter, und griff beherzt nach der leblosen Hand, die vor ihm aus der Erde ragte.
Er hatte sofort erkannt, dass es sich um die rechte Hand der vergrabenen Person handelte. Als wollte er dem Leichnam die Hand schütteln und sich artig vorstellen, ergriff er sie mit seiner eigenen rechten Hand und zog einmal kräftig daran. Natürlich erhoffte er sich nicht, den Körper auf diese Weise aus der Erde ziehen zu können. Das war auch gar nicht seine Absicht. Allerdings gab der Arm, an dem die Hand hing, etwas nach, und ein weiteres Stück des Unterarms kam zum Vorschein. Dadurch gerieten weitere Erdklumpen in Bewegung, blätterten ab und purzelten nach unten.
Als er genauer hinsah, entdeckte er, dass durch seine Aktion nicht nur ein weiterer Teil des weißen, mit kreisrunden Brandmalen bedeckten Unterarms sichtbar geworden war, sondern auch ein Armband aus silbernen Kettengliedern, an denen mehrere Anhänger hingen.
Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich an einer heißen Herdplatte verbrannt. Er gab einen kurzen, teilweise unterdrückten Laut von sich, eine Mischung aus Stöhnen, Aufheulen und Schluchzen, und starrte gebannt auf das Armband. Auch ohne genauer hinzusehen oder die Anhänger zu zählen und zu untersuchen, wusste er, dass es sich um ein silbernes Bettelarmband handelte, an dem sieben kleine Symbole hingen. Es handelte sich um ein Kreuz, ein Herz, ein Kleeblatt, einen Schlüssel, einen Pilz, einen Engel und einen kleinen Eiffelturm. Symbole, Erinnerungen und Stationen eines Lebens, das nun unweigerlich beendet war.
Sein Blick verschleierte sich, als ihm Tränen in die Augen schossen. Doch das Bild des zierlichen, leichenblassen Handgelenks mit dem im Mondlicht glänzenden Armband hatte sich ohnehin längst unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Er schluchzte leise, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen und sich dort mit dem Schweiß vermischten.
Er hob beide Arme, die Hände zu Fäusten geballt, und legte den Kopf in den Nacken. Mit tränenverschleiertem Blick starrte er zum Mond empor, der die Szene, die ein paar seiner Strahlen aus der Finsternis rissen, im Schutz des Astwerks schweigend beobachtete. Das leise Schluchzen verstummte, als er tief Luft holte, den Mund ganz weit aufriss und einen gellenden Schrei von sich gab, der wie das Heulen eines Wolfs klang und weithin hörbar durch die nächtliche Stille hallte. Ein paar Hunde in der Nähe wurden davon aufgeschreckt und erwiderten das Heulen, als wollten sie einen neuen Artgenossen in ihrer Mitte begrüßen …
Er beobachtete fasziniert die tanzenden Flammenzungen, die an der Fensterscheibe des Gebäudes vor ihm emporleckten, wieder in sich zusammensanken, als wollten sie neuen Anlauf nehmen, und schon im nächsten Augenblick noch höher und zahlreicher emporloderten. Durch das geschlossene Fenster war ihr Knistern und Knacken, mit dem das Feuer alles verzehrte, was in Reichweite war, um sich davon zu nähren und noch weiter zu wachsen, nur gedämpft zu hören. In seinen Ohren klang es allerdings beinahe so, als flüsterten die Flammen ihm etwas zu. Er legte den Kopf schief, konnte aber immer noch nicht verstehen, was sie ihm sagen wollten.
Trotz der Faszination, die das muntere Spiel der Flammenzungen in ihm auslöste, spürte er dennoch auch die Gefahr, die von ihnen ausging. Instinktiv wich er auf dem gepflasterten Innenhof mehrere Schritte zurück. Er sah zu den anderen Fenstern, von denen es ziemlich viele gab. Hinter den meisten in der unteren Reihe loderte bereits das Feuer. Hinter anderen war nur ein orangerotes Leuchten zu sehen. Die oberen Fenster waren hingegen noch dunkel.
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