COVER
TITEL
PROLOG
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
EPILOG
NACHWORT
WEITERE TITEL DES AUTORS
LESEPROBE
Ich wusste, dass der Mann, den ich verfolgte, demnächst sterben würde, denn ich hatte das Antlitz des Todes in seinem Gesicht gesehen.
Dabei war ich ihm erst vor wenigen Minuten in der U-Bahn zum ersten Mal begegnet, als sich unsere Hände im dichten Gedränge zufällig berührten. Ich zog sofort erschrocken meine Hand zurück und wandte den Kopf in seine Richtung. Doch es war zu spät. Die Berührung, die lediglich den Bruchteil eines Augenblicks gewährt hatte, reichte aus, um mir zu zeigen, was ich eigentlich gar nicht sehen und wissen wollte.
Der Mann war dem Tode geweiht!
Er sah mich ebenfalls an, doch den Ausdruck in seinem Gesicht konnte ich nicht erkennen, da mich stattdessen ein Totengesicht anstarrte. Ich erschauderte unwillkürlich am ganzen Körper und schloss die Augen, als könnte ich das Bild auf diese Weise zum Erlöschen bringen. Doch als ich sie wieder öffnete und ihn erneut ansah, war die Erscheinung – oder worum auch immer es sich dabei handelte – noch immer da.
Es sah aus, als würde ich mit dem rechten und dem linken Auge zwei unterschiedliche Bilder sehen, die in meinem Kopf übereinander projiziert wurden. Ich erkannte zwar die Gestalt des Mannes und die Umrisse seines Kopfes. Doch anstelle seines Gesichts sah ich einen düsteren Fleck in der Form eines Totenschädels, der es ausfüllte und die natürlichen Gesichtszüge unkenntlich machte. Ich hatte so etwas in den letzten anderthalb Jahren schon öfter gesehen, als mir lieb sein konnte. Doch es war jedes Mal wieder aufs Neue erschreckend und furchtbar.
Nach ein paar Sekunden verblasste der schattenartige Totenkopf, der sich wie eine düstere Unheilwolke über seine Gesichtszüge gelegt hatte, allmählich wieder, und sein normales Gesicht kam zum Vorschein. Er sah mich zornig und gleichzeitig irritiert an. Vermutlich war er ratlos und wütend, weil ich ihn so erschrocken angestarrt hatte. Wir wandten gleichzeitig betreten den Blick ab und sahen in verschiedene Richtungen.
Dennoch konnte ich nicht ungeschehen machen oder vergessen, was ich gesehen hatte.
Denn es bedeutete, dass er sterben würde!
Noch wusste ich zu wenig über die Gabe, die mir allerdings eher wie ein Fluch erschien und die ich erst seit etwa 18 Monaten besaß. Eines wusste ich jedoch mit Sicherheit: Diejenigen, in deren Gesichtern ich das Antlitz des Todes sah, hatten allerhöchstens noch 72 Stunden zu leben.
Als die U-Bahn langsamer wurde, weil sie sich der nächsten Station näherte, überlegte ich fieberhaft, was ich tun sollte. Ich wusste, dass jeder Versuch, den Mann vor seinem Schicksal bewahren zu wollen, zum Scheitern verurteilt war. Zumindest hatte es in all den vorherigen Fällen, in denen ich es versucht hatte, nicht funktioniert. Ich ging daher davon aus, dass sein Tod schon jetzt vorherbestimmt war und von niemandem verhindert werden konnte. Aber vielleicht war es ja dieses Mal anders. Vielleicht konnte ich es dieses Mal schaffen.
Ich seufzte, als die U-Bahn mit einem Ruck anhielt, der mich einen halben Schritt nach vorn taumeln ließ. Ich hatte es nämlich nicht mehr gewagt, mich irgendwo festzuhalten. Ich hatte Angst, ich könnte noch einmal versehentlich direkten Körperkontakt zu jemandem bekommen, der zufälligerweise innerhalb der nächsten drei Tage sterben würde. Denn nur dann war ich in der Lage, das Totengesicht der betreffenden Person zu sehen. Zum Glück war das Gedränge so groß, dass ich nicht umfallen konnte. Allerdings stieß der Mann vor mir, den ich anrempelte, ein ärgerliches Grunzen aus.
Ich behielt meine bloßen Hände dicht am Körper, als ich in der Menge wie in einem Fischschwarm aus der U-Bahn und auf den Bahnsteig geschwemmt wurde. Vielleicht war es doch langsam an der Zeit, dass ich mir auch im Sommer dünne Handschuhe anzog, um mich vor unliebsamen Berührungen und dem Anblick der Totengesichter zu schützen. Auch wenn meine Hände darin schwitzen würden und ich damit vermutlich wie der letzte Idiot aussah. Aber ich wollte nicht wissen, ob die Menschen, denen ich begegnete, demnächst sterben mussten, da dieses Wissen mich stets vor die alles entscheidende Frage stellte, was ich damit anfangen sollte. Sollte ich dem Schicksal, das ich anscheinend ohnehin nicht verändern konnte, einfach seinen Lauf lassen und untätig bleiben? Oder sollte ich die dem Tode geweihte Person verfolgen, weil ich die Hoffnung trotz aller Fehlschläge in der Vergangenheit noch immer nicht völlig aufgegeben hatte? Denn wozu sollte meine Gabe – oder der Fluch – denn sonst gut sein, wenn ich gar nicht in der Lage war, etwas zu verändern?
Ohne dass es mir sofort bewusst geworden war, hatte ich mich an den Rand der Menschenmasse schwemmen lassen, die wie eine Herde Schafe zur Rolltreppe strömte. Ich blieb vor der gekachelten Wand der U-Bahnstation stehen, wandte mich um und ließ meinen Blick über die Menge schweifen. Es sah so aus, als hätte ich meine Entscheidung, was ich tun sollte, längst gefällt, völlig intuitiv und ohne bewusst darüber nachzudenken.
Zuerst dachte ich, der Mann, dessen Totengesicht ich gesehen hatte, wäre längst weg oder in der U-Bahn geblieben, denn die Menge vor mir lichtete sich merklich. Doch dann entdeckte ich ihn. Er hatte sich etwas zurückfallen lassen, um dem dichtesten Gedränge zu entgehen, und gehörte zu den Nachzüglern, die sich in Richtung Rolltreppe bewegten.
Obwohl ich ihn nur von hinten sah, erkannte ich ihn dennoch sofort wieder. Er trug einen schwarzen, für meine Begriffe sehr teuer wirkenden zweiteiligen Businessanzug und schwarze Budapester. Sein kurz geschnittenes, dunkelbraunes Haar war schon leicht ergraut und auf der linken Seite seines Kopfes gescheitelt. Der Scheitel war schnurgerade und sah aus, als wäre er mit einer Axt gezogen worden. Außerdem trug er eine Brille, deren Bügel ich hinter seinen zu groß geratenen, leicht abstehenden Ohren erkennen konnte. Ich wusste auch, dass er eine dunkelbraune Aktentasche bei sich hatte, obwohl ich sie von hinten nicht sehen konnte, denn er trug sie mit beiden Händen umklammert vor der Brust, als hätte er Angst, jemand könnte sie ihm entreißen. Die Tasche und die Art, wie er sie hielt, waren mir beiläufig aufgefallen, als ich ihn in der U-Bahn von vorn gesehen hatte, unmittelbar nachdem wir uns zufällig berührt hatten.
Ich fragte mich natürlich, was er bei sich hatte, dass er so besorgt darüber zu sein schien, es könnte ihm gestohlen werden. Es musste etwas Wichtiges sein. Andererseits konnte man im dichten Gedränge der U-Bahn, in der Taschendiebe leichtes Spiel hatten, nicht vorsichtig genug sein.
Bevor der Mann die Rolltreppe erreichte, setzte ich mich ebenfalls in Bewegung. Ich sah auf die Uhr, die über dem Bahnsteig hing. Es war kurz vor fünf Uhr am Nachmittag, doch ich hatte noch genügend Zeit, bevor ich mich in einem Café ganz in der Nähe mit einem Bekannten treffen wollte.
Im Gegensatz zu mir schien es der Todgeweihte jetzt allerdings doch eilig zu haben, denn er ging die Stufen der Rolltreppe hinauf, um schneller oben zu sein. Ich folgte seinem Beispiel und passierte all die anderen Leute, die es gemächlicher angingen und sich nach oben tragen ließen.
Читать дальше