Ich musste vorausgeahnt haben, was er als Nächstes tat, denn ich tauchte bereits ab und ging hinter dem Toyota in Deckung, noch ehe er begann, sich umzuwenden und in alle Richtungen zu sehen, als wollte er sichergehen, dass wirklich niemand in der Nähe und er vollkommen allein auf der Parkebene war. Nach zehn Sekunden, die ich in Gedanken abzählte, hob ich den Kopf wieder vorsichtig und spähte über das Autodach hinweg. Ich erschrak, als ich ihn nicht mehr sah, und richtete mich vollständig auf. Doch im selben Moment richtete auch er sich vor dem geparkten X6 auf, wandte sich rasch ab und entfernte sich mit eiligen Schritten.
Ich war verwirrt, daher ließ ich einige Momente verstreichen, ehe ich ihm folgte, und dachte nach. Da ich in Deckung gegangen war, um nicht entdeckt zu werden, hatte ich nicht gesehen, was der Mann in dieser Zeit getan hatte. Aber wenn er den Kofferraum, vor dem er gestanden hatte, geöffnet hätte, dann hätte ich das mit Sicherheit hören müssen. Was hatte er aber dann dort gemacht?
Da ich allein durch Nachdenken diese Frage nicht beantworten konnte, schüttelte ich kurzerhand den Kopf und beeilte mich, dem todgeweihten Mann zu folgen, der inzwischen das Treppenhaus auf der anderen Seite des Parkdecks erreicht hatte und soeben die Tür öffnete. Sobald er außer Sicht und die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, lief ich los, um nicht den Anschluss zu verlieren. Ich erreichte die Tür, auf der Ausgang Nord stand, nur wenige Sekunden, nachdem er verschwunden war, verschnaufte kurz und öffnete die Tür dann langsam. Ich lauschte und konnte seine Schritte auf den Gitterstufen der Treppe unterhalb meines Standorts hören.
Ich huschte ins Treppenhaus und schloss die Tür zum Parkdeck leise hinter mir. Dann ging ich ebenfalls die Stufen nach unten. Da ich nicht verhindern konnte, dass die Stahlgitterkonstruktion unter meinen Schritten erbebte und Lärm verursachte, bemühte ich mich, meine Schritte im Gleichklang mit denen des Mannes zu setzen, dem ich folgte. Allerdings waren auch noch andere Leute im Treppenhaus, kamen von den anderen Parkebenen oder waren zu diesen unterwegs, sodass ich nicht auffiel und nur einer unter vielen war.
Nachdem wir wieder unter anderen Menschen waren, fiel es mir leichter, ihm unauffällig zu folgen. Außerdem musste ich nicht mehr so großen Abstand halten, da ich mich in der Menge verstecken konnte. Als wir im Erdgeschoss ankamen, ignorierte der andere erneut die Kassenautomaten und ging in Richtung Ausgang. Ich schwamm erneut mit dem Strom, als ich ihm folgte, denn alle wollten rasch das Parkhaus verlassen.
Der Todgeweihte trat auf den Bürgersteig vor dem Gebäude. Wegen der anderen Menschen zwischen uns verlor ich ihn für einen Moment aus den Augen, doch dann konnte ich zwischen den Köpfen der anderen hindurch erkennen, dass er nach links und rechts sah, bevor er auf die Straße trat.
Erneut wurde mir die Sicht versperrt, als ein Zeitgenosse, der mich um mindestens einen halben Kopf überragte, sich vor mir einreihte. Doch das störte mich nicht, denn der andere Mann war nur wenige Meter vor mir und überquerte gerade die Straße, sodass ich ihn kaum verlieren würde.
In diesem Moment brüllte ein Motor wie ein wildes Raubtier ohrenbetäubend laut auf, dann kreischten Reifen auf dem Asphalt, als ein Auto vehement beschleunigt wurde. Ich hörte einen dumpfen Schlag, dem sich ein kurzer Augenblick atemberaubender Stille anschloss, als hielte für den Bruchteil einer Sekunde die ganze Welt den Atem an. Zahlreiche Menschen in meiner Umgebung schrien gleichzeitig, riefen unverständliche Worte oder stöhnten kollektiv auf, während das Gebrüll des Motors stetig leiser wurde, weil sich der Wagen mit hoher Geschwindigkeit sehr rasch entfernte. Dann war noch einmal das Lärmen seiner Reifen zu hören, als er in der Ferne zu schnell um eine Ecke bog.
Im ersten Moment wusste ich nicht, was geschehen war, da mir die Sicht zur Straße noch immer verwehrt war. Doch wie bei einem Puzzle, das ausschließlich aus Geräuschen bestand, setzte mein Verstand das Gehörte in eine furchtbare Ahnung um, die mir den Atem verschlug. Und das, obwohl ich schon vorher gewusst hatte, dass der Mann sterben würde, weil ich das Antlitz des Todes auf seinem Gesicht gesehen hatte. Aber dass es so schnell passieren würde, damit hatte ich nicht gerechnet.
Ganz plötzlich, nachdem für kurze Zeit jede Bewegung in meiner unmittelbaren Umgebung erstarrt gewesen war, drängte alles nach vorn in Richtung Straße, um einen Blick auf das Unglück zu erhaschen, das sich dort abgespielt hatte. Auch ich schob mich rücksichtslos durch die Menschenmenge, achtete allerdings dennoch darauf, dass ich niemanden mit den bloßen Händen berührte. Ein Totengesicht und die Gewissheit, dass ich es auch dieses Mal nicht hatte verhindern können, reichten mir für einen Tag vollkommen.
Indem ich mich durch schmale Lücken zwängte und, wenn es sein musste, auch meine Ellbogen einsetzte, um mir Platz zu verschaffen, gelangte ich zum Rand des Bürgersteigs vor dem Zugang zum Parkhaus. Er schien eine unsichtbare Barriere für die Schaulustigen zu bilden, denn keiner wagte es, die Straße zu betreten, so als hätten alle Angst davor, ihnen könnte dasselbe widerfahren wie dem Mann im zweiteiligen schwarzen Businessanzug, der in absolut unnatürlicher und ungesunder Körperhaltung mitten auf der Straße lag.
Ich blieb ebenfalls an der Gehsteigkante stehen und starrte entsetzt auf den Mann, dem ich seit mindestens einer halben Stunde von der vollen U-Bahn bis hierher gefolgt war. Ich musste gar nicht näher heran, um zu erkennen, dass er tot war. Er lag auf dem Rücken. Sein linker Arm und der rechte Fuß waren so verdreht, wie es keiner lebenden Person, nicht einmal dem talentiertesten Schlangenmenschen, möglich gewesen wäre, ohne bleibende Schäden davonzutragen. Außerdem wurde die Blutlache, die sich um seinen zerschmetterten Schädel herum wie ein roter Heiligenschein auf dem Asphalt gebildet hatte, mit jeder Sekunde größer. Obwohl auch sein Gesicht deformiert und blutüberströmt war, hatte ich keine Zweifel, dass es der Mann war, dessen Totengesicht ich gesehen hatte. Als ich bemerkte, dass er keine Brille trug, überkamen mich zwar dennoch leichte Zweifel, doch als ich den Blick über die Straße schweifen ließ, entdeckte ich das verbogene, glaslose Gestell fünf Meter von der Leiche entfernt.
Dann fiel mir auf, dass seine Hände leer waren und er die Aktentasche nicht mehr bei sich hatte. Ich suchte erneut die Straße ab, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Und dass er auf der Tasche lag und sein Körper sie vor meinen Blicken verbarg, war eher unwahrscheinlich, denn so, wie der Tote dalag, hätte man zumindest einen Teil der Tasche sehen müssen. Wo war sie also geblieben?
Ich konzentrierte mich wieder auf das Gesicht des toten Mannes, als wollte ich es mir trotz seiner Verletzungen und des vielen Bluts einprägen. Da der Kopf zur Seite und sein Gesicht in meine Richtung gewandt waren, konnte ich seine Augen sehen, die offen, aber absolut leblos waren.
Ich erschauderte, denn es erschien mir fast, als sähe mich der Leichnam vorwurfsvoll an, obwohl das natürlich unmöglich war. Dennoch hatte ich unwillkürlich ein schlechtes Gewissen, weil es mir wieder einmal nicht gelungen war, den Tod eines Menschen zu verhindern, obwohl ich ihn vorausgesehen hatte.
Als ich den anklagenden Blick schließlich keine Sekunde länger ertragen konnte, wandte ich mich fröstelnd ab, drängte mich durch die Mauer der Schaulustigen hinter mir und ging eilig davon.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als mich jemand an der Schulter anrempelte. Ich zuckte wie immer sofort automatisch zurück und presste meine Hände eng an den Körper, bevor mir einfiel, dass ich dieses Mal Handschuhe trug, um mich vor unwillkommenen körperlichen Kontakten zu schützen.
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