»Aber wer …?«, fragte sie mit krächzender Stimme, ehe ein Hustenanfall sie verstummen ließ. Während sie hustete, löste jede einzelne Erschütterung ihres Körpers in ihrem gequälten Schädel weitere weißglühende Pfeile aus purem Schmerz aus, die in alle Richtungen flogen.
Aber als hätten die neuen Schmerzimpulse sie befreit, tauchten plötzlich Erinnerungen in ihr auf. Es waren allerdings ganz andere Erinnerungen, als sie erwartet und erhofft hatte. Sie erinnerte sich nämlich daran, dass vor ein paar Tagen eine junge Frau verschwunden und seitdem nicht mehr aufgetaucht war. Sie wohnte ganz in der Nähe von Fürstenfeldbruck und sah ihr sogar ein bisschen ähnlich. Beide hatten langes, hellblondes Haar und hübsche, ebenmäßige Gesichtszüge. Beide waren groß gewachsen und schlank. Sie hatte die andere zwar nicht gekannt, da sie in verschiedenen Orten wohnten und unterschiedliche Schulen besuchten, dennoch hatte ihr spurloses Verschwinden sie entsetzt und beunruhigt.
Sollte ihr nun dasselbe widerfahren sein und das gleiche Schicksal drohen wie der verschwundenen Frau, die nur ein knappes Jahr jünger war als sie.
»Aber wieso ausgerechnet ich?«
Es schien, als wären ihre Worte von jemandem vernommen worden und hätten in einem anderen Teil dieses Hauses eine Reaktion ausgelöst, denn plötzlich wurden direkt über ihr Geräusche laut. Stampfende Schritte ertönten, verharrten kurz, wurden dann lauter, nachdem vermutlich eine Tür geöffnet worden war, polterten anschließend Stufen herunter und kamen dann rasch näher.
Ihr Herz schlug mit jedem lauter werdenden Schritt der unbekannten Person schneller und heftiger, während es noch immer im eiskalten Griff ihrer furchtbaren Angst steckte. Denn selbst wenn sie denjenigen, der sich ihr näherte, gar nicht kannte, musste es sich doch um die Person handeln, die sie aus ihrem normalen Leben gerissen und an diesen albtraumhaften Ort gebracht hatte und nun hier gefangen hielt.
Als die Schritte schließlich unmittelbar vor der Tür zu ihrem Kellerverlies verstummten, hielt sie unwillkürlich die Luft an. Mit ängstlichem Blick und laut klopfendem Herzen starrte sie die geschlossene Tür an, die einzige Barriere, die nun noch zwischen ihr und ihrem Entführer lag.
Ein Schlüssel drehte sich im Türschloss. Dann wurde ein Riegel zurückgezogen. Die Tür öffnete sich mit einem nervenzerreißenden Quietschen. Es fuhr ihr durch Mark und Bein und hätte sie beinahe laut schreien lassen.
Beim Anblick des Maskierten, der den Kellerraum betrat, konnte sie sich allerdings nicht länger beherrschen. Sie schrie so laut und schrill, wie sie noch nie zuvor geschrien hatte. Doch ihr Schrei währte nur Sekunden, bevor der Vermummte nach vorn sprang und ihr ins Gesicht schlug. Nicht so fest, dass sie verletzt wurde oder das Bewusstsein verlor, aber doch fest genug, um ihr Schreien zu einem leisen Wimmern werden zu lassen.
»Endlich aufgewacht, Miststück?«, fragte der Maskierte, der eine bunte Clownsmaske und eine bis zum Boden reichende schwarze Kutte mit Kapuze trug, mit dunkler, rauer Stimme. Er legte seine behandschuhte, rechte Hand unter ihr schmales Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Dann können wir ja endlich anfangen, dir Schmerzen zuzufügen, die du für den kümmerlichen Rest deines kurzen, beschissenen Lebens nicht mehr vergessen wirst, damit du das, was du getan hast, endlich eingestehst und bereust.«
Durch die Augenschlitze konnte sie die Augen der Person sehen, die sie mitleidlos und zornig anfunkelten. Noch mehr als der Schlag ins Gesicht und die ganze Maskerade ließ sie dieser Blick frösteln und das Schlimmste befürchten …
Er grub wie ein Besessener. Der Schweiß lief ihm nicht nur übers Gesicht, sondern längst am ganzen Körper herunter und durchtränkte seine Kleidung. Er schwitzte und fröstelte zugleich, denn ein kühler Wind wehte durch die Bäume, unter denen er stand und grub, und brachte die Blätter zum Rascheln. In seinen Ohren klang es beinahe so, als unterhielten sich die Bäume flüsternd über ihn und das, was er hier tat.
Doch auf all diese Dinge achtete er nur am Rande. Denn viel mehr interessierte ihn die Erde unter seinen Füßen und das, was sie vermutlich enthielt.
Seine Bewegungen wurden immer hektischer, je größer das Loch wurde, das er aushob. Er achtete auch nicht darauf, ob jedes Mal genug Erde auf dem Blatt des Spatens war, damit sich die ruckartige, beinahe wütende Bewegung, mit der er die Erdbrocken hinter sich schleuderte, auch lohnte. Ihm kam es nicht darauf an, effektiv und kräftesparend zu graben und mit der ausgehobenen Erde neben dem Loch einen ordentlichen Haufen zu bilden. Ihm kam es einzig auf Schnelligkeit an. Er hatte es eilig, denn er wollte endlich Gewissheit haben, auch wenn er schon jetzt wusste, dass ihm die Gewissheit vor allem Kummer bereiten und Leid zufügen würde.
Obwohl er erst vor wenigen Minuten zu graben begonnen hatte, war die ungleichmäßige Grube unter seinen Füßen bereits knöcheltief. Längst schnappte er keuchend nach Luft, gönnte sich aber keine Pause. Ohne Unterlass grub er, als hinge sein Leben davon ab.
Und vielleicht war es ja auch so. Er war sich in dieser Hinsicht nämlich noch nicht sicher.
Was werde ich tun, wenn es tatsächlich wahr ist? , hatte er sich in den letzten Minuten mehr als einmal bang gefragt. Werde ich den Mut haben, die richtigen Konsequenzen aus dem, was ich finde, zu ziehen? Das Richtige zu tun? Das, was getan werden muss?
Er kannte die Antworten auf diese Fragen nicht. Vermutlich würde er sie erst wissen, wenn er fand, wonach er suchte. Falls es tatsächlich hier vergraben war. Denn noch war nichts sicher. Noch hatte er Hoffnung, dass es nur ein Irrtum war.
Die Arme wurden mit jedem Heben des Spatens schwerer. Seine Unterarmmuskeln verkrampften sich immer wieder aufgrund der ungewohnten Belastung durch die heftigen, ruckartigen Bewegungen. Außerdem schmerzte sein Rücken, weil der Griff des Spatens zu kurz war und er gebückt graben musste. Als die Krämpfe in den Unterarmen zu stark wurden, musste er doch eine kurze Pause einlegen. Er lehnte den Spatengriff gegen sein rechtes Bein, dessen Knie ebenso wie das andere vor Anspannung und Angst zitterte. Dann massierte er sich zuerst mit der linken Hand den rechten Unterarm und anschließend umgekehrt, bis sich die schmerzhafte Verkrampfung ein bisschen gelockert hatte.
Wie gut das tat, als der Schmerz nachließ. Zumindest was den körperlichen Schmerz betraf, denn den vermochte er halbwegs zu lindern. Im Gegensatz zu seinem seelischen Leid. Die Wunde, die sein Herz davongetragen hatte, war zu tief und zu schwer, als dass sie heilbar wäre. Und von dem, was hier vergraben lag, würde es abhängen, ob sie letzten Endes auch tödlich war.
Er legte den Kopf in den Nacken und gönnte sich noch ein paar weitere Augenblicke, um zu verschnaufen und wieder ein wenig zu Atem zu kommen. Durch vereinzelte Lücken im Laubwerk der Bäume, die ihn umgaben und überragten, konnte er den Nachthimmel sehen, der vom Mond erhellt wurde, der in dieser Nacht noch immer fast voll und rund war. Einzelne Strahlen schienen auch zwischen den Ästen hindurch auf ihn und den erdigen Untergrund, auf dem er stand und ein Loch aushob. Das Mondlicht war Beleuchtung genug, um ihn sein makabres Werk verrichten zu lassen. Die Taschenlampe, die er von zu Hause mitgebracht hatte, hatte er deshalb wieder eingesteckt, sobald er diesen Ort gefunden und erkannt hatte, was er verbarg.
Mach weiter!
Der mentale Befehl, den er sich selbst gab, setzte ihn gleichermaßen abrupt und ruckartig in Bewegung wie einen ferngesteuerten Roboter der Druck auf den Kontrollhebel. Er nahm den Spaten, atmete noch einmal tief durch und trieb das Blatt dann mit neuer Kraft tiefer als zuvor in die Erde. Er stöhnte leise, als er einen großen Erdbrocken anhob und zur Seite warf. Der Schweiß auf seinem Körper hatte nicht einmal Zeit gehabt, vollständig zu trocknen, da brach er ihm erneut aus.
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