„ Ich habe für alles gesorgt. Ich erwarte dich dann. “
Er trat tiefer ins Dunkel.
„ Florian? “
Hatte ich geträumt? Er war verschwunden.
Was sollte ich also tun? Zurück ins Bett? Ihm folgen? Er stand doch wirklich hier, nicht?
Ich schlich mich zurück ins Zimmer. Alles schlief. Schnell zog ich mir meine Jeans über die kurze Schlafanzughose und einen blauen Pullover über das Shirt. Dann folgten noch Anorak und Turnschuhe. Ich musste verrückt geworden sein, um auf eine derartige Verabredung einzugehen.
Vielleicht … wieso sagte er so etwas? Wofür hatte er gesorgt? Was hatte er am See geplant?
Mir ging vieles durch den Kopf. Ein Kuss? Der Kuss eines Jungen, in den man richtig verliebt war, musste etwas Besonderes sein. Heiß und süß dachte ich ihn mir aus und mir wurde schwindlig.
Ach was! Die Haustür wird eh abgeriegelt sein …
Aber sie war es nicht. Sie stand offen. Hatte es geregnet? Auf dem Boden glänzten Wasserpfützen.
Zögerlich verließ ich die Herberge, unsicher auf den Beinen. Mein Herz schlug vor Aufregung. Geradewegs rannte ich zum See. Die Nacht war kühl, der Frost biss mir in die Wangen. Ich hörte die nächtlichen Geräusche der Stadt, die heulenden Sirenen von Polizei und Krankenwagen, das Rufen der umtriebigen Menschen, das Knallen eines Feuerwerkskörpers. Die Laute wurden weniger, je näher ich meinem Ziel kam. Wo wir am Ufer gesessen hatten, war nichts zu sehen. Außer den alten Spuren unzähliger Füße im Sand. Der Mond schien hell und beleuchtete das stille Wasser.
„ Hey! “ , vernahm ich wieder Florians Rufen. Es kam vom Wald her. Vom schwarzen, dunklen Wald. Langsam bekam ich Angst. Das Rauschen in den Bäumen war unheimlich. Der Wind blies wirklich kalt. Es war ja noch immer Winter.
Mein Smartphone … lag vergessen im Zimmer. Ich hatte kein Licht.
„ Hey! “ , rief es abermals leise aus dem Astwerk der Bäume.
Ich ging einen schmalen Trampelpfad am Ufer entlang. Vorsichtig, denn er war steil. Ich wollte nicht fallen und wie ein begossener Pudel enden. Der Rückweg zur Herberge würde dann noch peinlicher als so schon werden.
Sollte ich ihm wütend sein, dass er mich nach draußen gelockt hatte, obwohl ich jetzt im warmen Bett weiterschlafen könnte? Was hatte er vor? Wenn es eine gute Überraschung war, wollte ich ihm verzeihen können. Eine böse … stand nicht zur Debatte.
Oder war das eine Falle von Chantal? Die hatte mich gestern wütend angesehen. Wollte mir das Miststück etwa eins reinwürgen?
„ Florian? “ , wisperte ich in den Wind.
Die dünne Eisschicht auf dem See knisterte.
„ Hey. “
Die Stimme klang mit einmal sehr nah.
Als hätte mir jemand ins Ohr geflüstert!
Ich schreckte auf. Wirbelte herum. Niemand war zu sehen.
Mein Atem ging rasch. Mein Herz bebte. Gehetzt blickte ich mich um, Rücken zum Wasser. Versuchte im Dunkeln zu sehen. Ein Gesicht zwischen den Bäumen zu erkennen. War das wirklich Florian? Warum wollte er mir solche Angst machen?
Mir war kalt. Und ich war müde. Ich musste umkehren. Ich sollte dringend -
Ein Knacken. Ein Glucksen. Im Wasser. Aber dort konnte er sich nicht verstecken! Es war viel zu kalt!
Im Wasser war es zu kalt für -
„ Komm zu mir. “
Jemand umfasste mich von hinten. Zog mich tief unter Eis und Wasser.
Mit aller Kraft drängte ich die glitschigen Arme von mir fort. Der Griff löste sich.
Ich wollte nach oben, Luft schnappen, raus, an Land!
Eine starke Hand packte mich am Bein. Zog mich hinab in die Dunkelheit. Ließ mich nicht aufsteigen.
Ich trat aus. Die Hand ließ los.
Doch die Kälte nicht.
Erwachen im grünen See
„…!“
„…an. Wi…“
„Sieh… … Wass…“
„Das gibt’s nicht.“
„Wieso noch eine?“
„Die arme Kleine …“
„Selber schuld.“
„Ich tippe auf unerwiderte Liebe.“
„Kommt häufig vor.“
„Dabei ist sie so jung.“
„Danach fragt keiner.“
„Ist nicht mein Problem.“
„Du Ignorant.“
Una hörte die Stimmen sprechen. Erst undeutlich, dann klarer. Es waren drei verschiedene. Die einer Frau und zwei Männer, ein älterer, ein jüngerer. Sie konnte sie verstehen. Demnach konnte sie nicht tot sein. Tote können nicht hören. Tote können nicht denken.
Gerettet , kam es ihr sofort hoffnungsvoll in den getrübten Sinn. Sie war gerettet worden vor dem Ertrinken. Sie war nicht gestorben. Jemand hatte sie aus dem See gefischt und in ein Krankenhaus gebracht, wo man sich um sie kümmerte. Sie hatte überlebt. War der Kälte entkommen. Sie lebte.
Sind diese drei meine Ärzte?
„Ah, sie kommt zu sich!“
„Das ist ihr gutes Recht.“
„Ist es nicht. Ihm wird das gar nicht passen. Sie sollte besser gehen.“
„Wohin denn?“
„Keine Ahnung. Woanders hin halt.“
„Er muss sich doch an die Regeln von Mutter Natur halten. Sie ist jetzt nun mal hier.“
„Trotzdem. Wir kennen ihn doch. Er wird niemanden neben sich akzeptieren.“
„Stimmt, er teilt nicht.“
„So, wie es aussieht, muss er das fürs Erste aber.“
Was reden die da? Una verstand den Sinn ihrer Worte nicht. Ärzte redeten anders.
Schwer bekam sie ein Gefühl für ihren Körper. Er fühlte sich so steif an, fast wie fremd. Als wäre sie in einem Kokon eingesponnen, gleich einem Schmetterling kurz vor der fertigen Metamorphose, der nicht begreifen konnte, warum er keine Raupe mehr war und wozu Flügel gut sein sollten. Es war ein seltsam verlorenes, hilfloses Gefühl. Doch immerhin ein Gefühl. Denn Gefühle sagten, dass sie tatsächlich lebte.
Noch war sie müde vom langen Schlaf. Ihre Augen wollten die Lider nicht heben.
„Was für ein hübsches junges Ding. Genau das richtige Alter.“
„Wovon sprichst du?“
„Na, meint ihr nicht, dass sie ihm vielleicht gefallen wird?“
„Ha! Wenn sich das derart entwickelt, lass ich mich freiwillig fressen!“
„Überschätze ihn nicht. Du bist eine Traumtänzerin.“
„Ich denke, das könnte passen.“
„Nie und nimmer.“
Sie reden von mir. Und wem noch?
Langsam streckte Una ihre Glieder. Zäh kämpfte sie gegen die Müdigkeit an. Sie sog Luft in ihre Lungen – doch hereinströmte nur etwas Kaltes, Sumpfiges … Sie atmete rasch aus, würgte es heraus, um einen neuen Atemzug zu tun. Aber wieder atmete sie bloß brackig schmeckendes Wasser.
„Angewohnheit von oben“, feixte jemand hämisch.
„Verliert sich mit der Zeit.“
Schlagartig öffnete sie ihre Augen. Hier war kein weißes Krankenzimmer. Sie lag in keinem weichen Bett. Nichts schien ihr vertraut. Nur Dunkelheit.
Nein , Düsterkeit. Trübe, grünschwarze Düsterkeit.
Sie blickte hinab auf einen schlammigen, nach Torf riechenden schwarzen Boden, auf unzählige, mit glitschigem Moos bewachsene Steine. Verlaufene Spuren von hellem Sand. Feine Gräser, die wie Haare im Wind wogen. Jedoch spürte sie keinen Wind auf ihrer Haut. Hörte ihn nicht. Alles schien komplett lautlos zu sein.
Sie selbst lag nicht. Stand nicht. Schwebte schwerelos über dem fremdartigen Boden.
Schwebte im Wasser. Unter Wasser.
Una bekam Angst. Furchtbare Angst. So groß, dass ihr Herz laut in der Brust schlagen, sich gar zerreißen musste. Doch in ihr war es still. Ihr Herz schlug nicht. Es stand still.
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