„Lern doch mal draus“ , hatte ich ihm gesagt.
„ Ist doch eh bloß scheiße mit der ganzen Lernerei! “ , schimpfte er.
Wann war aus meinem süßen kleinen Bruder dieser nörgelnde, fluchende, spuckende Freizeitdieb geworden? Ich hatte es nicht bemerkt. War ja mit mir genug beschäftigt. Ich hätte auf ihn aufpassen müssen. Ich war eine schreckliche, dumme Schwester gewesen.
Bevor es wirklich ernst mit der Prüfung wurde, gönnte uns die Schulleitung noch ein letztes Mal Urlaub. Unsere Klassenfahrt sollte geplant werden und als Termin wurde uns eine Woche Anfang März genannt. Ich hatte von vornherein wenig Lust darauf, mit unserer zerstrittenen Gruppe ganze fünf Tage zu verbringen.
Fünf Tage mit Florian zusammen erschienen mir dagegen sehr gelegen.
Früher waren wir uns außerdem alle einig, wo es hingehen sollte. Heute hatte jeder einen anderen Vorschlag. Die einen wollten aufs Land, die anderen ans Meer, wieder andere in die Berge und noch mal andere hatten keinen Bock auf Natur. Sie wollten raus aus der Kleinstadt, hinein in die Metropole. Sie lockten die Mitschüler mit Events, Technik, Mode – halt alles, was cool, neu, angesagt war. Weil andere sagten, dass es cool, neu und angesagt war. Viele Menschen, viele Geschäfte, ein Haufen zu erleben.
Nach wenigen Tagen Bedenkzeit hatten sie ihr Ziel erreicht. Wir würden eine Jugendherberge in der Großstadt beziehen, nah am Zentrum, dem Puls der Zeit. Und kaum, dass alles in die Wege geleitet war, fingen die, die diesen Vorschlag überhaupt erst gemacht hatten, an zu meckern. Zu teuer, zu leise, nicht die richtige angesagte Gegend …
Hier konnte man es niemanden mehr recht machen. Ich war echt genervt von diesen Idioten.
Wäre es fair, ihnen die Schuld an meinem Tod zu geben? An einem anderen Ort zu einer anderen Zeit wäre mir vielleicht nichts passiert. Aber jetzt ist es eh egal, wer Schuld hat.
Am Abend vor der Abreise kam Kieran wieder in mein Zimmer. Ich packte gerade meinen Reisekoffer. Lud ihn voll mit den besten Klamotten, die ich besaß. Wollte ich zur Klassenfahrt oder auf den Laufsteg?
„ Viel Spaß die Tage “ , sagte er mit einem gepressten Ausdruck in der Stimme und drückte mich kurz. Kieran hatte mit dem Knuddeln aufgehört, seit er in die Schule kam. Ich war total überrascht.
„ Was ist los? “ , wollte ich wissen.
Er zuckte die Schultern. „ Du bist lang weg. “
„ Und ich fehle dir jetzt schon? “
Wieder Schulterzucken. „ Wird scheiße ohne dich. “
„ Ach, Quatsch “, sagte ich und zerzauste ihm das Haar, „ das wird schon. Mom und Dad können dir ja nicht ewig sauer sein, oder? Das ist bald vergessen, lass den Kopf nicht hängen. “
Er sah nicht sehr überzeugt aus.
„ Mach ihnen eine Freude, dann vergessen sie schneller “ , lächelte ich unbesorgt.
„ Und was zum Beispiel? “
„ Zeitung austragen, ehrenamtliche Arbeit, klasse Noten … Es würde auch schon reichen, wenn du dich von diesem Luca fernhältst. Der macht dir nur Schwierigkeiten, wenn er dich zum Klauen überredet. “
Der letzte Satz traf ihn hart. Er schämte sich.
„ Hör mal “ , sagte ich und zog ihn zu mir auf das Bett, „ du kennst doch die alte Frau Weißbach … “
Kieran schaute wieder skeptisch. „ Diese alte Hexe? Die ist doch fast hundert! “
„ Aber sie ist freundlich und hat einen süßen Hund. Du könntest ihr deine Hilfe beim Gassigehen anbieten. Oder ihr mit den Einkäufen helfen. Ich hab gehört, sie würde dafür auch bezahlen. Zeig Mom und Dad, dass du Verantwortung übernehmen kannst und nicht nur Mist baust. Dann wird alles wieder gut. “
Er seufzte. Nickte. „ Ich kann es ja mal versuchen. “
„ Eben. Überrasche mich, wenn ich zurückkomme. “
„ Okay “ , sagte Kieran und drückte mich erneut. Diesmal war es ihm ernst.
Tut mir leid, Brüderchen. Doch ich komme nicht zurück.
Die Großstadt fanden schließlich doch alle aufregend. Die Menschenmassen, die vielen Autos, Straßenbahnen, U-Bahnen, Leuchtreklamen. Straßenkünstler an jeder Ecke. Und Bettler. Musik schien aus jedem Fenster zu tönen. Und Krach. Überfüllte Gehwege mit Fremden aller Art und Nation. Jeder hinterließ seine Spuren.
Ich wusste nicht, ob ich diese Stadt hässlich oder schön nennen sollte. Ekel und Bewunderung auf beiden Seiten. Es gab so viel zu sehen. Genauso wie ich vieles nicht sehen wollte. Stress, Kreativität, Hektik, Humanität, Umweltaktionen, Schmutz, Gestank, Lärm, Gewimmel, Vogelgezwitscher.
Auf einem großen Platz mit Wasserbecken und vielen wasserspeienden Pferden aus Kupfer machten wir eine Pause. Wir kauften Eis, Hotdogs, Burger und Döner. Weil die Papierkörbe überfüllt waren und Krähen zusätzlich den Müll verteilten, ließen viele Schüler ihren Dreck in der Gegend liegen.
„ Das machen alle so in der Großstadt! “ , behauptete Jonas.
Die Lehrerin erzählte unterdessen den wenigen zuhörenden Mitschülern die Geschichte des Brunnens. Welcher Architekt gewirkt hatte; wie viel Geld in den Bau eingeflossen war; wie der Platz früher aussah; wie die Stadt im späten Mittelalter als Zusammenschluss vieler kleiner Siedlungen gegründet wurde …
Mir fiel die Vorstellung schwer, dass einst Wiesen und Hügel die Landschaft geprägt haben sollten, wo jetzt bloß noch Stahl, Beton und Teer das Bild beherrschten.
Unweit von mir besah sich ein Obdachloser den liegen gelassenen Abfall.
Großstadt. Große Träume. Doch für einige gingen sie niemals in Erfüllung, bis sie die Reste anderer aßen. Ein kalter Schauer erfasste mich beim Anblick dieses Mannes. Sein Gesicht war so schmutzig, dass ich es kaum erkennen konnte. Er musste versucht haben, sich im Brunnen zu waschen, er war tropfnass …
„ Hier hast du was, Alter! “ , rief Sven und warf unerwartet seinen abgebissenen Burger dem Mann auf den gebeugten Rücken. Sofort keifte ihn die Lehrerin an. Sie drängte eilig zum Weitergehen – wohl, weil es ihr peinlich war, dass einer ihrer Schüler sich derart daneben benahm. An den Bettler richtete sie kein Wort der Entschuldigung. Sie schaute ihn nicht einmal an. Für sie war er kein Mensch, bei dem man sich entschuldigen müsste.
Der Obdachlose sagte ebenfalls nichts. Er rührte sich nicht und sah nur zu, wie das Essen im Brunnen versank. Er machte ein trauriges Gesicht. Bestimmt hatte er Hunger. Da ich noch etwas von meinem Mittag übrig hatte, legte ich es beiseite, damit er es sich nehmen konnte. Zwar spürte ich, wie er mich anglotzte, doch ich traute mich nicht, den Blick zu erwidern und ging schnell meiner Klasse hinterher.
Ob er mir leidtat? Jedenfalls hätte ich Sven gern eine dafür gelangt. Ich wünsche mir, dass er eines Tages genauso endet. Verspottet, verzweifelt und allein.
Die Herberge war spartanisch eingerichtet. Die anderen Mädchen fanden die Betten zu grässlich oder zu hart, als dass sie sich je vorstellen konnten, darin zu schlafen.
Es ist nur für vier Nächte, das wird ja wohl gehen , dachte ich mir.
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