Florian sprach meinen Gedanken aus und setzt noch hinzu, dass keine von den Mädels die Prinzessin auf der Erbse war und daher niemand hofiert werden müsste.
Die schnappten total ein!
Ich musste lachen.
Er war wirklich cool. Und geradeheraus. Ich hoffe, er wird es auch in Zukunft bleiben.
Die nächsten zwei Tage waren wir in der Stadt unterwegs. Museen und Veranstaltungen wurden besucht, Denkmäler besichtigt, der Stadtpark mit seinen verschiedenen Freizeitangeboten und dem Stadion erkundet. Eine Führung über Brückenbau zeigte uns den breiten Fluss, der die Stadt zweiteilte. Ich sah einen bunten Schwan. Jemand hielt es für witzig, ihn mit Farbe zu besprühen. Er konnte noch so sehr untertauchen und sich waschen, der Lack ging nicht ab.
Zum Ärger der anderen Schülerinnen, war Florian oft in meiner Nähe und wir sprachen über Belanglosigkeiten. Über die Familie, die Schule, die Prüfung. Er bot mir an, gemeinsam mit ihm zu lernen. Ich war sehr glücklich darüber.
Am Donnerstag hatten wir nach dem Mittagessen Freizeit. Florian und ich gingen in der Nähe der Herberge spazieren. Wir hielten nicht Händchen oder so. Wir quatschten nur. Sahen uns die Grundstücke der Kleingartengemeinde an, die wie grüne Flecken in der Stadt wuchsen. Viele Sparten waren verwaist. In ihnen wucherte es dafür wild und gerade das gefiel Florian.
„ Ist doch witzig “ , sagte er, „ selbst i n so einer Betonstadt wächst die Natur ungebunden und frei. Wenn wir Menschen mal nicht mehr sind, wird das alles hier mit Grün überzogen werden. Die Erde wird uns überleben. “
Florian besaß kein Handy oder Smartphone. Er war ein Naturmensch und hasste Konsum und Werbung. Diese Klassenfahrt in die Stadt war für ihn der blanke Horror. Ich vergaß mein Smartphone immer häufiger auf meinem Zimmer und bemerkte endlich mal, wie entspannend es war, nicht ständig online zu sein. Wir belächelten die Menschen, die uns entgegenkamen und am Bildschirm klebten.
So wie ich früher.
„ Die sehen nicht mal, was sie vor der Nase haben “ , spottete Florian.
Hinter den Kleingärten gab es einen versteckten Sandpfad. Neugierig folgten wir ihm und waren erstaunt, dass er uns zu einem See führte. Ein grüner See inmitten der Großstadt, umzingelt von Hochbauten. Sogar ein kleiner Wald schloss sich fast ringförmig um das Ufer.
„ Das muss mal ein angelegter Badestrand gewesen sein “ , meinte Florian und zeigte auf ein Schild, auf dem verwittert, kaum noch lesbar stand: Baden verboten! Lebensgefahr!
Bestimmte Schilder sollte man beachten.
Er setzte sich in den mit Grasbüscheln bewachsenen Sand und schaute auf das Wasser hinaus. Ich hätte mich fast in eine Glasscherbe gesetzt.
Überall lag vergessener Müll herum. Bei einer Feuerstelle war es besonders schlimm mit Zigarettenstummeln, Plastikflaschen, Dosen und leeren Verpackungen. Graffitis zierten Steine und Sitzbänke.
„ Sicher war das hier mal ein sehr schöner Ort “ , maulte Florian leise, „bevor all diese Trottel kamen. Auf alten Bildern sehen die Strände gepflegter aus. Da wurde der Schutzmann sauer, wenn du die Kippe einfach so fallen gelassen hast. “
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich konnte schlecht alle Menschen als Trottel abstempeln, oder? War ich denn besser?
Florian zog einen Schuh aus und ging zum Ufer. Das Wasser berührte seine nackten Zehen und er schüttelte sich.
„ Schweinekalt! “ , zischte er durch die Zähne.
Ich lächelte. „ Natürlich. Ist noch Winter. “
Er brummte etwas Unverständliches, zog den zweiten Schuh aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Dann stieg er mutig ins Wasser. Bis zu den Knien stand er in der Kälte und konzentrierte sich darauf, keine Miene zu verziehen. Doch schlussendlich war es zu viel und er hüpfte regelrecht zurück aufs Trockene. Fluchend rieb er seine rot angelaufenen Füße.
„ Was sollte das denn? “ , fragte ich verwirrt.
„ Ich wollte mal sehen, wie verweichlicht ich bin. Einige Leute gehen im Eis baden. Und ich komm gerade mal so weit …“
Er schien zornig auf sich selbst zu sein.
Ich fand das albern. Aber er war cool, er durfte das.
„ Hey! “ , kreischte eine Stimme über den See. Wir zuckten zusammen.
Ein alter Mann im braunen Anzug stand hinter uns. Er ging mit seinem Rauhaardackel spazieren.
„I hr jungen Leute könnt wirklich keine Schilder mehr lesen, wie?! Baden ist hier nicht gestattet! “ , schimpfte der Alte streng.
„ Er war nur kurz mit den Füßen drin! “ , erklärte ich.
„ Trotzdem “ , wetterte der Alte weiter, „ sind schon genug Leute abgesoffen, die nicht hören wollten. Ist kein Spielplatz. Und barfuß gehen ist hier auch nicht gut. Schneidest dich bloß, Junge. “
„ Danke für die Sorge “ , gab sich Florian gelassen.
Wir warteten, bis seine Füße etwas trockener für die Socken waren. Dann gingen wir zur Herberge zurück, bevor wir uns erkälteten.
Mich kümmerte bald nicht mehr die Mahnung des Mannes. Immerhin verließen wir morgen die Stadt.
Florian dagegen redete noch oft vom grünen See.
In dieser letzten Nacht konnte ich nicht richtig schlafen. Ständig wachte ich auf. Mir war, als hörte ich immer wieder ein Rufen. Nicht meinen Namen, aber ein Rufen. Und doch war niemand außer meinen Mitschülerinnen im Zimmer. Sie schliefen alle, als ich aufstand, um auf die Toilette zu gehen.
Draußen war es stockdunkle Nacht. Na ja, wobei in der Großstadt die Lichter nie ausgingen.
Als ich fertig war, wollte ich eigentlich zurück ins Bett. Da hörte ich es wieder.
„ Hey. “
Leise, fast geflüstert. Zu deutlich aber für eine Einbildung.
Ich drehte mich um. Im Halbdunkel glaubte ich, am Ende des Flurs jemanden stehen zu sehen.
„ Hey. “
„ Florian? “ , fragte ich nach.
„ Ja. “
Ich wollte näher treten, doch sagte er: „ Leise. Sonst hört man uns. “
Ich blieb stehen.
„ Was ist denn? “ , wollte ich endlich wissen. Sein heimliches Getue war merkwürdig.
„ Erinnerst du dich an den See? “
Was für eine Frage. Wir waren doch erst dort gewesen. Was wollte er bloß mit dem See?
„ Klar?! “
„ Wir treffen uns dort. Ich will mit dir den Mond ansehen. “
„ Den Mond? “
Ich sah nach draußen. Tatsächlich war der Mond beinahe voll. Vor lauter Lichtabfall hatte ich ihn erst gar nicht gesehen.
„ Warum können wir ihn nicht hier - “ , doch er unterbrach mich.
„ Er ist viel schöner am See. Viel heller. Zieh dich an. Wir sehen uns dort. “
Was soll das werden?
„ Die Herberge ist abgeschlossen, und wenn die Lehrerin spitzkriegt - “ , versuchte ich den Unsinn seiner Bitte zu erklären, trotzdem schüttelte er widerspenstig den Kopf.
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