1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Der Häuptling stimmte ihm zu. »Du solltest damit anfangen, alle Orte, von denen er dir jemals berichtet hat oder die ihr als Kinder besucht habt, nach Hinweisen zu durchsuchen. Denke auch darüber nach, ob er in letzter Zeit irgendeine Bemerkung gemacht hat, die uns weiterhelfen könnte. Wenn du irgendwas brauchst, komm zu mir. Die Unterstützung des ganzen Stammes ist dir sicher. Irgendetwas stimmt da ganz und gar nicht!«
»Und da ist noch etwas«, warf der Greifenreiter ein. Er war begierig darauf, dem Häuptling von den Ereignissen auf der Baustelle zu erzählen. Unter normalen Umständen hätte er dies in allen Einzelheiten getan. Doch die Sorge um seinen Bruder und die daraus resultierende Unruhe veranlassten ihn dazu, seine Erzählung auf das Wesentliche zu beschränken. »Ich habe einen Magier bei den Säulen der Unvergänglichkeit gesehen, inmitten des Eisenbahner-Camps.«
»Ein Magier?!« Der dürre, nackte Schamane sprang auf, als hätte ihn irgendein Ungeziefer in seinen Allerwertesten gebissen. »So nahe beim Heiligtum? Bei allen Göttern!«
Er fuchtelte wild mit den dünnen Armen umher, während er weiter krächzte »Das Verschwinden des Greifenreiters und das Auftauchen des Magiers – da muss es eine Verbindung geben. Kein Wunder, dass sich mein alter Schamanenstab nach all den Jahren mal wieder geregt hat. Ein Zeichen – wie ich schon sagte.«
Für einen kurzen Augenblick wurde er still und nachdenklich, während er sich seinen Schädel kratzte. Dann riss er die Augen auf und erhob seinen knochigen Zeigefinger.
»Ich muss sofort die Geister um Rat fragen!« Mit diesen Worten stürmte er aus dem Tipi, so schnell, dass die beiden anderen Elfen nur noch verdattert dreinblicken konnten. Dann jedoch fassten beide gleichzeitig den Entschluss, ihm zu folgen.
Obwohl kein seltener Anblick sorgte die Blöße des Schamanen wie so oft für Erheiterung im Dorf der Moonytoads. Kinder rannten ihm laut lachend und feixend hinterher, Männer grölten ihm zotige Sprüche nach und Frauen, vor allem die jüngeren, senkten ihren Blick und kicherten verschämt.
All das nicht zur Kenntnis nehmend raste der greise Elf mit einer Geschwindigkeit durch das Dorf, die man einem alten Knacker wie ihm niemals zugetraut hätte. Seine Verfolger bemühten sich währenddessen angestrengt, den Blick von seinem wackelnden, faltigen Hintern abzuwenden. Dieses Bild würden sie nämlich so schnell nicht wieder aus ihren Köpfen bekommen, das wussten beide.
Bald schon hatten sie den blauen, kuppelförmigen Wigwam des Schamanen erreicht. Dieses war von innen wesentlich größer als von außen. Schon manch ein Besucher war aufgrund dieses Missverhältnisses verwirrt wieder nach draußen und um den Wigwam herum gelaufen, um ein Erklärung für dieses erstaunliche Phänomen zu finden. Doch nur die Magie des Schamanen machte solch ein Wunder möglich.
Diese Tatsache war ebenso ein Indiz für die außergewöhnlich große Macht des alten Wirrkopfs, wie für seine unbändige Sammelwut. Diese hatte ihn einst dazu genötigt, seine Behausung durch einen derartigen Zauber zu vergrößern. Aufgrund erneut auftretenden Platzmangels würde er diesen Zauber bald schon wiederholen müssen. Tausende von magischen Relikten, verwunschenen Artefakten und Utensilien für magische Beschwörungen türmten sich im riesigen Inneren des Wigwams auf. Haufenweise uralte Schriftrollen und vollständig gefüllte Sammelalben mit den gezeichneten Köpfen berühmter Greifenreiter lagen dort herum. In einer Ecke stand sogar ein kompletter Totempfahl, zweimal so groß wie ein ausgewachsener Elf, und in einer anderen ein ausgestopfter Braunbär, der drohend auf den Hinterbeinen stand. Aus unbekannten Gründen trug dieser einen Knopf in seinem linken Ohr.
Im Laufe seines Lebens – eines Elfenlebens wohlgemerkt, das in der Regel nicht nur läppische Jahrzehnte sondern mehrere Jahrhunderte umfasst – hatte der alte Schamane nichts von dem fortgeworfen, was irgendwie in seine Finger gelangt war. Er hatte so viele Dinge gesammelt, wie sie andere Leute in ihrem Leben noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Neben der magischen Begabung des Schamanen war es wohl seine erstaunlichste Fähigkeit, sich auch nur ansatzweise in diesem Chaos zurechtfinden zu können.
Greifenreiter und Häuptling wussten um all die Absonderlichkeiten dieser Behausung. Sie schenkten ihnen deshalb auch keinerlei Beachtung. Sie hockten sich einfach nieder und sahen zu, wie der Schamane anfing, hektisch irgendwelche Haufen zu durchsuchen. Laut fluchend beschimpfte er dabei die imaginäre Person, die angeblich immer seine Sachen versteckte.
Zwischen einigen aus Holz geschnitzten Götzenfiguren fand er letztendlich das, was er gesucht hatte. Er holte seine lange, mit kleinen Federn geschmückte Pfeife heraus – eine Pfeife für den Konsum von Tabak oder Kräutern natürlich, die andere hätte er ja nicht mehr hervorholen müssen – und stopfte sie mit einem groben, dunkelbraunen Kraut.
Schon kurz nachdem er sich hingesetzt und das Kraut entzündet hatte, füllte sich der Raum mit dichten Rauschwaden. Deren würziger, etwas süßlicher Geruch weckte auch in dem Greifenreiter eine gewisse Begehrlichkeit. Er war dem gelegentlichen Genuss von berauschenden Kräutern ebenfalls nicht abgeneigt. Dieses spezielle Kraut war jedoch aufgrund seiner enorm starken Wirkung dem Schamanen vorbehalten.
Dieser sog begierig den Qualm aus der Pfeife in sich hinein und nach einer Weile begann er langsam mit dem Oberkörper schwankend eine Beschwörung zu rezitieren.
»Ich rufe euch an, oh ihr Ahnen«, murmelte er. »Ich bitte um euren Rat und um euren Beistand.«
Er wiederholte diese Worte in einer Art leisem Gesang immer wieder, bis plötzlich seine Augäpfel nach oben kippten, sodass nur noch das Weiße in seinen Augen zu sehen war. Seine zwei Besucher wussten, dass er nun das Reich der Geister betreten hatte.
»Wir benötigen Auskunft über die seltsamen Ereignisse, die momentan stattfinden«, sprach der Schamane nun in seinem gewohnt krächzenden Tonfall. »Was? Wie? Einen Moment, die Verbindung ist total beschissen. Du kommst total abgehackt rüber.«
Weiterhin in Trance nahm Träumender Lurch einen weiteren tiefen Zug aus seiner Pfeife.
»Ja, so ist es besser«, stellte er zufrieden fest. »Kannst du mir mit meinem Anliegen weiterhelfen? Du nicht? Ja, wer denn dann? Ach so! Könntest du mich vielleicht weiter verbinden? Danke, das ist nett!«
Ein kurzer Augenblick verging, dann war der Schamane wohl mit dem richtigen Geist verbunden. Er erzählte ihm vom Verschwinden des Greifenreiters und dem Auftauchen des Magiers. Auch die nächtliche Auferstehung seines sonst inaktiven Körperteils ließ er nicht aus. Stehender Gaul und der junge Krieger starrten ihn währenddessen ungeduldig und wie gebannt an.
»Aha!«, krächzte der Alte nun wieder. »Hmm...soso...ah ja...na gut. Und da bist du dir auch ganz sicher? Na supi! Ich danke dir, oh Ahne! Ach so, bevor ich es vergesse: Ich soll dich von deinem Urenkel grüßen...Ja, er ist leider immer noch so fett, aber was willste machen? Weniger Kohlenhydrate und mehr ungesättigte Fettsäuren? Nicht mehr so viel auf seinem dicken Hintern herumsitzen? Ja, ich richte es ihm aus. Machs gut! Träumender Lurch – over and out!«
Die Augen des Schamanen wurden wieder normal und noch leicht benebelt wandte er sich an die beiden anderen Anwesenden. »Wie ich es vermutet habe: Die Geschehnisse stehen alle in einem Zusammenhang.«
»Und?« wollte der Häuptling wissen.
»Nichts und! Mehr wissen die Ahnen auch nicht.«
Der Greis stand auf und reckte sich. »So, und jetzt brauche ich was Süßes. Ich glaube, ich bekomme einen Fresskick.«
»Das war jetzt aber nicht besonders hilfreich«, stellte der Greifenreiter enttäuscht fest.
Der Schamane huschte indes durch den Wigwam und holte einen großen Topf voller Honig hinter einem Korb voller Schrumpfköpfe hervor.
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