1. Phase 23
2. Phase 30
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Einleitung
Die Perspektive des besten Freundes
„Sie haben Ausgang bis dreiundzwanzig Uhr dreißig. Dreiundzwanzig Uhr dreißig ABV.“ Mit einem der schönsten Sätze, den der Militärjargon zu bieten hat, beendete der Kompaniekommandant seine Rede. Ungefähr zweihundert Soldaten schrien voller Tatendrang ein erleichtertes „Merci!“ über den Waffenplatz zurück. Im selben Moment löste sich die geometrisch exakt angeordnete Menschenformation, der man mit einem geschulten Auge den Grad der einzelnen Bestandteile entnehmen konnte, in Windeseile auf. Einem Ameisenhaufen gleich stoben die Uniformierten geschäftig auseinander, um kein Minütchen der kostbaren Freizeit missen zu müssen. Endlich Feierabend! Ich ließ die graue Kaserne hinter meinem Rücken verschwinden und schritt mit meinen Kameraden in Richtung „Soldatenstube“. Ihrem Namen alle Ehre machend, füllte sich die Kneipe, inklusive bewirtschafteten Vorgartens, rasch mit durstigen Stimmen und genießerischem Gelächter. Auf runden Serviertabletts dahergeflogen verwandelten uns die kühlen Biere in eine angeheiterte Gesellschaft.
Ich hatte vermutlich ein Maß über den Durst getrunken, als mich meine Blase um eine Erleichterung bat. Ihrer Bitte Folge leistend erhob ich mich und ersuchte das stille Örtchen. „Eine neue Sprachnachricht“ leuchtete mir von meinem Handydisplay entgegen. In freudiger Erwartung lauschte ich konzentriert der Stimme meines besten Freundes, während ich mich bemühte, keine allzu große Sauerei zu veranstalten. Im Verlaufe seines Berichtes wandelte sich meine Mimik so sprunghaft, als trainierte ich gerade meine Gesichtsmuskulatur. Es begann mit einem Lächeln, doch dann riss ich die Augenbrauen hoch, nur um sie im nächsten Moment zusammenzuziehen; hierauf rümpfte ich die Nase, schob den Kopf leicht hervor, presste Ober- auf Unterlippe und blies danach die Backen auf, aus denen die Atemluft unter einem leisen Zischen langsam entwich. Als die Nachricht beendet war, stand ich noch immer vor dem Pissoir, den Blick auf die weiße Wand gerichtet. „Das kann nicht sein“, dachte ich. In den ersten Sekunden hielt ich seine Nachricht für einen Scherz, denn diese Art von Scherzen schien ihm ganz ähnlich. Aber nein, dafür war seine Stimme viel zu gelassen, sie klang ernst und zielorientiert, so als wüsste er wieder einmal genau, was er wollte. Ich kannte ihn schon einige Jahre und wusste bestens, dass seine Ideen manchmal auf spontanen Entscheidungen basierten. Diese Geistesblitze und Spontaneität mochte ich auch sehr an ihm; zu einem neuen, kurzfristigen Abenteuer würde er niemals „nein“ sagen. Doch das, was er jetzt berichtete, war einfach nur dämlich! Absoluter Schwachsinn! Was hatte ihn dazu gebracht, diese Entscheidung zu fällen? Wie kann man nur auf den Gedanken kommen, im Alter von 19 Jahren eine Fernbeziehung von Europa nach Amerika zu führen? Völlig absurd, blauäugig und unüberlegt.
Mit offenem Munde stand ich noch einige weitere Sekunden in Schockstarre, unfähig, diese Information in einen sinnvollen Kontext einzuordnen. Doch ebenso wie der Alkoholrausch die Reaktionszeit erhöht, fühlt man sich auch in seiner Meinung und Weltanschauung bestärkt und ist dazu geneigt, weniger Selbstzweifel auszuüben, ganz zu schweigen von den Bemühungen um Objektivität. Als ich meine Fassung wiederfand, zögerte ich keine Sekunde, ihm ebenfalls eine Sprachnachricht zukommen zu lassen, um darin meine ungefilterten Gedanken mit gehobener und lallender Stimme mitzuteilen.
Ob ich heute anders daran denke? Gewiss. Nicht nur weil ich die ganze Sache nüchterner betrachten kann, sondern weil ich mit ihm und durch ihn gelernt habe. Dieser Entscheid veränderte ihn, so wie uns jeder Entscheid in gewissem Maße verändert. Eine Entscheidung für etwas ist zugleich eine Entscheidung gegen etwas anderes. Er schlug den risikoreichen Weg ein, nahm Kosten und Leid in Kauf, um sich für sein Bauchgefühl zu entscheiden. Viele der Auswirkungen und Konsequenzen, die dieser Entscheid mit sich brachte, durfte ich miterleben und einige wenige davon sogar mitgestalten: angefangen mit der Sprachnachricht, meine überstürzte Antwort auf seine Kundgebung bezüglich des veränderten Beziehungsstatus sowie dieses Buch, das Sie nun in den Händen halten.
Am allermeisten beeindruckte mich die Kraft, mit der er hinter seiner Entscheidung stand, und die Ausdauer, mit der an ihr festhielt. Ich finde, eine der wichtigsten Eigenschaften, die das Menschsein ausmacht, ist die Fähigkeit, sich für das einzusetzen, was man liebt.
Meine Perspektive
Dies ist die Geschichte, die von Drittpersonen als kitschig und kindlich betrachtet werden könnte. Die Geschichte, welche die meisten als „nicht schon wieder so ein Quatsch“ oder „immer die gleiche Leier“ abstempeln werden. Doch diese Geschichte entstand nicht auf dem Schreibtisch. Diese Geschichte entstand im Herzen zweier junger Verliebter, die nicht den Verstand eine Geschichte schreiben ließen, sondern dem Willen zur Zärtlichkeit, Zweisamkeit und Liebe eine Chance gaben. Diese Geschichte ist nicht wie jede andere nach Struktur und Handlungsablauf aus den Lehrbüchern entstanden. Diese Geschichte enthält keine dramaturgische Struktur, die stur eingehalten wurde. Nicht der Gedanke, eine Liebesgeschichte zu schreiben, ließ diese Zeilen ihren Lauf nehmen. Hier wurde die Liebesgeschichte gelebt, gefühlt und ist so real und pur mit allen Emotionen, die darin vorkommen, dass dieses Buch auf meinen Erinnerungen und nicht meinen Fantasien beruht.
Kitsch war ebenfalls nie meins und ist es immer noch nicht. Ich denke zurück an all diese Erinnerungen und ich fühle all diese Emotionen wie damals, doch wie mir all dies geschah, ist mir bis heute ein Rätsel. Jeden Tag verblasst die Wahrhaftigkeit dieser Erlebnisse ein Stück mehr. Jeden Tag entferne ich mich gefühlsmäßig mehr von den Erinnerungen, die mir geblieben sind, und jeden Tag zweifle ich mehr an der Tatsache, dass dies wirklich ich war. Ich sehe Bilder, auf denen wir abgebildet sind. Ich habe die Erinnerung dazu im Kopf, doch ich erkenne mich nicht mehr. Die Glaubwürdigkeit, dieses Erlebnis gehabt zu haben, schwindet immer mehr. All diese Geschehnisse sind so außergewöhnlich und wirken mit der Zeit immer unglaubhafter.