Philip blieb stehen.
Frendan’no sah ihn beinahe schuldbewusst an. »Seit ich mich damit beschäftige, und das tue ich noch nicht sehr lange«, gestand er, »weiß ich, dass die damalige Königin, Eleonore, einige Wochen nach deiner Geburt starb. Die Kunde von ihrem Tod erreichte die Stadt Corona ein paar Tage vor dem Weihfest.«
»Wie hieß mein Vater?«, fragte Philip leise.
»Clemens«, antwortete Frendan’no. »Viele deiner Vorfahren hießen so, zumindest steht es so in den Aufzeichnungen der Kirchenarchive. Es gab auch etliche Philmors und Peredurs. Die Listen sind nicht sehr abwechslungsreich.«
»Gab’s noch irgendeinen Philip?«
Frendan´no schmunzelte. »Wäre es denn wünschenswert?«
Philip zuckte mit den Schultern. Er wusste es selbst nicht. Es war nur so ein Gedanke, weil so viele Vornamen mir P anfingen. Mit einem ziehenden Schmerz in der Magengegend wurde ihm bewusst, dass alle seine Brüder einen Namen trugen, der mit J begann. Alle außer ihm! Inbrünstig wünschte er sich, dazuzugehören, wieder einer von ihnen zu sein. Aber dieses Privileg wurde ihm genommen. Er war ein Außenseiter.
Frendan’no wich nicht von seiner Seite, aber seine Nähe wirkte nicht aufdringlich, sondern fühlte sich an wie die natürlichste Sache der Welt. Er war das, was er in all den Jahren, für seine Tochter und alle seine Kindeskinder gewesen war. Ein guter Geist, der seine Hand schützend über ihn hielt. Philip spürte den Hauch einer Erinnerung und die Geborgenheit, die in ihr lag.
Als sie Stunden später zurück ins Lager kamen, war Philip ruhiger. Der Schmerz und das deutliche Gefühl etwas verloren zu haben, blieben jedoch bestehen.
Die Wiese lag dunkel vor dem leicht rötlich schimmernden Himmel über der Schlucht. Das Feuer glimmte behaglich und leuchtete einen Fleck auf der freien Fläche aus. Schattenhafte Gestalten saßen um die Glut.
Als Philip und Frendan’no aus dem Dunkel in den Lichtkreis des Feuers traten, sprang Olaf auf und verbeugte sich tief. Sein Knie berührte den Boden.
Philip sah ihn verständnislos an. »Was tust du da?«, fragte er.
»Ich neige mein Haupt vor dem verschollenen König und bitte um die Gnade, Euch dienen zu dürfen.«
»Bist du von allen guten Geistern verlassen. Hör sofort mit dem Unsinn auf.«
Olaf erhob sich zwar, aber seinen Blick hielt er gesenkt, und er sah aus, als ob er jederzeit bereit wäre, wieder auf die Knie zu fallen.
Aus Philips Unverständnis wurde Fassungslosigkeit, doch bevor er sich über sein weiteres Empfinden klarwerden konnte, berührte ihn Leron’das leicht am Arm.
»Es freut mich, dass du dich nun zu uns gesellst. Wenn du willst, könnten wir jetzt gemeinsam ein Mahl einnehmen.«
Auch Leron’das wirkte förmlich und steif. Philip setzte sich ans Feuer. Er hatte einen Bärenhunger und keine Lust, sich über das eigenartige Verhalten seiner Freunde Gedanken zu machen. Aus dem Kessel duftete es verführerisch.
Während des Essens wurde nicht viel gesprochen, aber als Philip seine leere Schüssel von sich schob und sich zufrieden streckte, spürte er Leron’das΄ Blick auf sich ruhen. Olaf sammelte hektisch Philips Geschirr ein und ging mit einem der Elben davon.
»Wir haben viel zu besprechen, und wenn du erlaubst, würden wir dir gerne bei der einen oder anderen Sache beratend zur Seite stehen«, begann Leron’das. »Es ist nicht leicht für dich. Auch für mich war es überraschend und erschreckend zugleich, als ich erfuhr, dass du derjenige bist, den ich die ganze Zeit über gesucht habe. Destina’riu, die Norne des Schicksals, war mir wohlgesonnen, doch ich war nicht in der Lage, diese Gunst zu erkennen. Ich bin froh, dass du es bist. Schon allein deine Herkunft gibt uns Elben Grund, zu hoffen.«
Philip suchte Worte, fand aber keine. Offensichtlich ging Leron’das davon aus, dass er sich in den vergangenen Tagen Gedanken über das Erbe seines unbekannten Vaters gemacht hatte, aber dazu war er noch gar nicht gekommen. Es gab noch keine Verbindung zwischen dem verschollenen König und Philip. Er fühlte sich überrumpelt und sein kaum gefundenes Gleichgewicht geriet wieder ins Wanken. Er dachte an Olaf, der in dieser scheußlichen Demutshaltung vor ihm niedergekniet war. Sie waren doch Gefährten. Freunde. Obwohl Olaf glaubte, Philip sei Herr über ein übersichtliches Stück Land.
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin das nicht«, murmelte er. »Ich kann das nicht.«
»Wer, wenn nicht du?«, fragte Leron’das. In seinen Augen stand jedoch keine Frage, sondern eine Aufforderung, die Philip erschreckte. Er wusste, wie viele Hoffnungen auf Peredurs Erben lasteten. Agnus, Hilmar, Vinzenz – sie alle warteten nur darauf, sich ihm anschließen zu können. Die Elben – sie hatten ihn gesucht, um ein neues Zeitalter einzuläuten.
Wie viele Hoffnungen hatte Philip selbst in diesen unbekannten König gesteckt? Hoffnungen, die jetzt wie Seifenblasen in der Luft zerplatzt waren. Heute wusste Philip um die Leichtfertigkeit, zu glauben, dass einer von königlichem Geblüt reichen würde, um dem Zauberer und König Levian die Stirn zu bieten.
Wer war Peredurs Erbe? Ein unreifer Junge ohne Einfluss – ohne Familie. Was konnte er schon vollbringen, außer, all die, die gehofft hatten, zu enttäuschen.
Philip hatte hier auf diesem Berg nicht nur seine Familie verloren, sondern auch seine Freunde. Sie brauchten einen starken König. Aber das war er nicht, und darum war es besser, wenn sie niemals erfuhren, was er hier auf diesem Berg erfahren hatte. Nie wieder konnte er ihnen unter die Augen treten. Niemals von diesem Berg hinabsteigen. Es gab dort unten keinen Platz mehr für ihn.
Und Arina … So schnell es ging, schob er den Gedanken beiseite, aber er konnte nicht verhindern, dass der Schmerz sich noch tiefer in sein Herz bohrte. Frendan’nos Nähe schenkte ihm die Geborgenheit einer warmen Stube in einer stürmischen Winternacht.
»Bring mich weg von hier«, bat Philip ihn. »Bring mich irgendwo hin, wo mich niemand findet.«
»Du kannst dich vor deiner Verantwortung nicht verstecken. Du bist der letzte Erbe der Kronthaler Könige«, sagte Leron’das bestimmt.
»Ich bin niemand.« Philip stand auf.
Geschmeidig wie eine Katze stellte sich ihm Leron’das in den Weg. »Du kannst jetzt nicht gehen! Dein Vater starb, bevor er seiner Bestimmung folgen konnte. Deine Mutter trug dich, die letzte Hoffnung …«
»Der, der mein Vater war, ist Schmied und meine … Mutter trägt viele Hoffnungen, nicht zuletzt Lume’tai, die eure Hoffnung ist. Ich bin ein einfacher Junge aus Waldoria, ich bin kein König!« Er wandte sich an Frendan’no. »Zeig mir den Hang, an dem meine Urgroßmutter stand.« Dann ließ er Leron’das stehen, um seine Sachen zusammenzusuchen. Als er wieder heraustrat, ging er zielstrebig zu den Koppeln. Dort warteten der Esel Lu und sein Pferd Erós, die ihm trotz aller Widrigkeiten dieser Zeit als Gefährten erhalten geblieben waren.
Leron’das stand ebenfalls dort und streichelte den Esel zwischen den Ohren. Er sah nicht auf, obwohl er Philips Kommen bemerkt haben musste.
»Erinnerst du dich noch an den Tag am Bach? Erinnerst du dich noch an den Tag, als ich mit Walter und dir über die Nachkommen von Peredur sprach? Damals war ich fest davon überzeugt, dass es viel mehr sein müssten, denn in Pal’dor war bekannt, dass Peredur drei Kinder hatte. Die Anzahl seiner Enkel und Urenkel hätte folglich erheblich sein müssen. Als ich jedoch nach langem Suchen endlich die Stammbäume in den Händen hielt, stellte ich fest, dass die Norne Varsa’ra unter den Menschen wütet wie eine Sichel im Kornfeld. Du und Walter, ihr wolltet dafür sorgen, dass ein Heer für den Königserben bereitsteht.«
»Das haben wir mehr oder weniger getan. Wir haben Vinzenz, Hilmar und Agnus davon erzählt und sie haben sich um alles Weitere gekümmert.«
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