Wenn Reichsminister Martin Bormann angesichts des starken Geburtenrückgangs offiziell die Bigamie für die Zeugung außerehelicher Kinder forderte, konnte es schon vorkommen, dass sich auch Mutti ganz energisch entrüstete, auch wenn sie sonst grundsätzlich weder Kommentare zur Politik abgab geschweige denn, sich in irgendeiner Form politisch betätigte oder äußerte.
Das wichtigste Ereignis an meinem dritten Geburtstag, am Mittwoch, dem zweiten Februar 1944, war zweifelsohne mein Versprechen, das ich Mutti, hochheilig beschworen, geben musste. Ich versprach, mit dem festen Willen, dieses Versprechen zu halten, ganz feierlich, dass ich von diesem Tage an nie mehr Windeln benötige und auch nicht mehr in mein Bettchen machen würde. Dagegen verblasste natürlich in unserer Familie ein weiterer Beweis deutscher Kultur in Krisenzeiten, die Erstaufführung in szenischer Form, die die bayrische Staatsoper auf die Bühne brachte, nämlich Carl Orffs „Carmina Burana“
Da ich ein gegebenes Versprechen grundsätzlich hielt und niemals brechen wollte, blieb ich tatsächlich nachts trocken. Nur ganz selten hatte ich geträumt, irgendwo auf einer Toilette zu sitzen oder zu stehen, dann war mein Bettchen leider wieder mal nass geworden, was ich Mutti dann am nächsten Morgen unter heftigen Tränen beichtete. Das brachte mir zwar keine Schelte schon gar keine Strafe ein, aber ich selbst war so fürchterlich unglücklich darüber, dass ich ein Versprechen nicht eingehalten hatte, wenn ich auch eigentlich nichts dazu konnte.
Fast grotesk mochte es anmuten, dass ab dem 20. Februar 1944 Blinker an Autos oder anderen Motorfahrzeugen im Straßenverkehr keine Pflicht mehr waren, weil die deutsche Industrie kriegsbedingt solche Teile nicht mehr herstellen konnte.
Unter dem Begriff „Big Week“ begann am 20. Februar 1944 eine Bomberoffensive der alliierten Luftwaffe, die außer gegen Hamburg, Leipzig und Posen auch gegen Braunschweig gerichtet war, so dass ebenfalls in unserem sicheren Evakuierungsquartier die Nächte nicht mehr so ruhig waren, wie bisher genossen.
So kam es, dass wir allmählich uns mit dem Gedanken vertraut machen mussten, die Stadt Braunschweig wieder zu verlassen, was nach den Osterzeugnissen, die Ursel noch abwarten musste, zum endgültigen Abschied von dieser Stadt führte.
Vati war nicht untätig geblieben während dieser Zeit und hatte bei seiner Mutter sich dafür eingesetzt, dass seine Familie doch vorübergehend bis zum Ende des Krieges bei ihr in ihrem Hause wohnen dürfe. Er hatte auch schon, kaum dass diese Genehmigung erteilt war, zwei Zimmer provisorisch eingerichtet, in die wir dann einziehen mochten.
Das großelterliche Haus in der Bismarckstraße 18 in Bad Godesberg gehörte zu den alten hochherrschaftlichen Großbauten mit besonders hohen Wänden und Decken und ebensolchen Fenstern.
Zum Haus gelangte man durch einen gepflegten Vorgarten, der mit einer niedrigen, leicht rissigen, grauen Mauer und darin eingelassenem schmiedeeisernen schwarz gestrichenen Zaun vom Gehweg abgeteilt war.
Die gediegene naturholzbelassene Eingangstür, erreichte man über eine hellgraue Granittreppe aus fünf Stufen, die zunächst auf einen etwa zwei mal zwei Meter großen Podest führten, dessen Boden ebenso mit hellgrauem Granit belegt war. Podest und Treppe waren überdacht und wetterfest eingerahmt.
Von dieser Treppe aus links hineinkommend wölbte sich hinter der Eingangstüre ein enorm großer, weiträumiger, sehr hoher Flur, dessen Boden mit roten Florentiner Fliesen bedeckt war. Eine riesige Holztreppe führte rechts neben der Eingangstüre in das erste Stockwerk, das uns Kindern zu betreten strengstens verboten war. Denn dort oben wohnte Frau Stephans, eine ältere Dame, die ständig Ruhe haben musste und eben deshalb auf gar keinen Fall von uns Kindern gestört werden durfte.
Unser Reich befand sich links von der Eingangstüre in dem Erkerzimmer, das zur Straße hinausschaute in den Vorgarten. Der Erker des Zimmers buchtete sich als Halbrund aus an der kürzeren der Tür gegenüberliegenden Seite und erhellte den ganzen Raum durch insgesamt vier sehr hohe Fenster, die oben mit einem Rundbogen abschlossen.
Zu meiner großen Freude thronte an der langen Wand links vom Eingang mein über alles geliebtes Büffet, das mir sofort wieder das heimatliche Gefühl der Verbundenheit vermittelte, das ich so lange während der Wohnzeiten in Behelfsquartieren vermisst hatte.
Vati hatte alle Möbel, die man zum täglichen Leben und zur Gemütlichkeit benötigte, in dieses eine Zimmer hineinstellen lassen , so dass links neben der Tür eine kleine Küche mit weiß emailliertem Herd mit einer hellen Stahlkochfläche, einem Küchenschrank aus Kiefernholz und ein Regal Raum bot für die Zubereitung von Speisen und gleichzeitig auch für die Heizung des Raumes, obwohl unter zweien der vier Fenster auch Zentralheizungskörper den Raum zu wärmen versprachen.
Vor dem Büffet lud das alte Plüschsofa zum Liegen oder Sitzen ein, ebenso der geliebte Ohrensessel und zwei weitere kleinere Plüschsessel, die sich wie alle Sitzmöbel um den großen Nussbaumtisch gruppierten.
Obwohl der Raum dadurch schon fast an gemütlicher Überfüllung litt, gab es aber noch Platz für die Einrichtung eines Kinderzimmers, bestehend aus dem kleinen Kinderstuhl-Tisch, der für Ursel zu klein geworden nun ausschließlich zu meiner Verfügung stand, und einem Stuhl mit einem weiteren kleinen Tisch, an dem Ursel ihre Schularbeiten erledigen konnte. Unter dem Kinderstuhl-Tisch durfte ich meine Spielsachen aufbewahren, die eigentlich fast nur aus zwei abgelegten Puppen meiner Schwester bestanden, aus fünf kleinen Puppenstuben, einigen kleinen Holzfiguren, die wohl früher einmal zu einer Weihnachtskrippe gehört hatten, sowie einer Hexe und den Märchenfiguren Hänsel und Gretel.
Die drei letzteren waren etwa fingerlang, die Hexe etwas größer als die beiden anderen aus hartem Material gefertigten Püppchen. Die Hexe stützte sich auf einen Stock und trug ein Kopftuch mit extrem kleinem blau-weißem Karomuster.
Ursels Spielzeug, Puppenwagen und einige Puppen lagerten im Nebenraum, in dem auch das Schlafzimmer untergebracht war. Es war noch mehr mit Möbeln vollgestopft, die nicht in den Keller konnten und auch keinen Platz mehr in unserem Wohnraum hatten.
Alle Räume waren etwa drei Meter hoch, so dass trotz der Enge im Winter ein enormer Heizbedarf notwendig wurde.
Die beiden uns zur Verfügung stehenden Zimmer lagen nebeneinander, hatten aber keine Verbindungstüre, so dass man nur über den Flur von einem ins andere Zimmer gelangen konnte.
Der Flur strahlte mit seinen fast zwei Meter hoch gefliesten grünen Wänden eine gewisse Würde aus, die man zum Beispiel sonst nur in einer Kathedrale empfindet, so dass wir in diesem Flur uns recht leise verhielten, auch wenn nicht wegen der alten Dame von oben sowieso ein Ruhegebot ausgesprochen worden wäre. Die grünen Fliesen an den Wänden rings herum glänzten immer, auch dann, wenn kaum Licht zu sehen war. Oben hatten diese Fliesen eine Verzierung wie eine Bordüre.
Auf der linken Seite unterbrach eine große, weiß lackierte Doppelschiebetüre die vornehme Kachelung. In den Schiebetüren sorgten zwei messingfarbene Metalleinlassungen dafür, dass man die Türen aufziehen oder auch zuziehen konnte, eine der beiden Mulden war mit einem Schloss versehen, für das nur Oma einen Schlüssel hatte, denn nur sie wollte die Kontrolle darüber behalten, wer den Doppelraum hinter dieser Tür zu betreten die Erlaubnis bekam.
Wenn wir Kinder wirklich einmal in diese „heiligen Hallen“ eindringen durften, dann ausschließlich zu dem Zweck, die Glastür rechts an der kurzen Wand zu durchqueren, um auf die steile Eisentreppe zu gelangen, die in den Garten führte. Das Zimmer beeindruckte mit einem sehr großen Doppelbett, einem riesigen Kleiderschrank, Waschkommode, zwei Nachtkonsolen aus besonders dunklem, glänzenden Nussbaumholz. Die Betten waren abgedeckt mit einer Brokatdecke, am oberen Ende mit einem weißen Spitzendeckchen verziert.
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