Daneben hockte meine Schwester, die ebenfalls ihren Kopf von der anderen Seite auf Muttis rechter Schoßhälfte gebettet hatte. Davon, dass wir am Ziel des Lastwagens angekommen waren, dort in einem Schuppen Muttis geringe Habe abgeladen hatten und danach bis zum nächsten Bahnhof gelaufen waren, hatte ich nichts mitbekommen, weil ich trotz aller Schaukelei und wechselnder Arme, in die ich gelegt wurde, nicht ein einziges Mal aufgewacht war, selbst dann nicht, wenn ich kurz mal abgelegt wurde auf einem Salzsack oder auch einfach auf den Boden, wenn gar nichts anderes frei war.
Nur dieses helle Licht hatte meinem Tiefschlaf ein Ende gesetzt. Helles Licht war auch wirklich in jenen Tagen recht ungewöhnlich, in denen es immer wieder darauf ankam, möglichst alles nach draußen zu verdunkeln und auch möglichst selten überhaupt Licht einzuschalten wegen der Gefahr, vom Feind gesehen zu werden oder weil gerade mal ein Erlass des Führers dafür Sorge trug, dass Energien nicht unnötig verschwendet wurden.
Aber Braunschweig war zu diesem Zeitpunkt noch relativ frei, der Feind offenbar noch weit fort, so dass man zumindest auf diesem Bahnhof einmal nicht mit dem Licht sparen musste. Außer dem Licht störte mich auch der Lärm auf dem Bahnsteig und die ständigen lauten, unangenehm klingenden Durchsagen, die bekannt gaben, welcher Zug auf welchem Bahnsteig zu erwarten wäre, welcher Zug ausgefallen war, und welche Soldaten sich wo bei ihrer Einheit zu melden hätten. Schlaftrunken, wie ich war, aber auch wegen meines Alters verstand ich sehr wenig von den lauten Aufrufen.
Nach stundenlanger Warterei erkämpfte Mutti sich mit uns beiden einen Platz in einem Zugabteil, dabei heftig mit einem Soldaten streitend, der den Sitzplatz beanspruchte, den Mutti eingenommen hatte, damit Ursel auf ihrem Schoß sitzen konnte und ich in ihren Armen liegen und weiter schlafen.
Irgendjemand hatte dann Mitleid mit dem offenbar verwundeten Soldaten, der der Meinung gewesen war, dass Mütter mit kleinen Kindern in diesen Zeiten eigentlich nichts in einem öffentlichen Zug zu suchen hätten, sondern brav und fromm in ihre Wohnungen gehörten, um dort auf ihre Kinder aufzupassen und auf die Feldpost zu warten.
So gelangten wir dann zu der uns zugewiesenen Wohnung, die im ersten Stock eines Zweifamilienhauses lag. Auch dort vermisste ich als erstes unser schönes Büffet, konnte mich aber sonst recht gut zurechtfinden, war auch schon selbständig genug, um alleine hinauszugehen und auf dem Gehweg vor dem Haus zu spielen, wie fast immer allein. So war ich es gewöhnt und entbehrte auch deshalb nichts.
Auch in Braunschweig hatte Mutti sehr schnell Freunde gefunden, mit denen ein ähnlicher Kaffee-Klatsch-Kult betrieben wurde, wie sie es von Essen her gewohnt war und in Muffendorf pflegen konnte. Die von ihr auserkorene Familie hieß am Berge, die Frau lebte allein etwa zweihundert Meter entfernt von unserer Wohnung in einer Seitenstraße ebenfalls im ersten Stock in einer möbliert abgegebenen Wohnung.
Frau am Berge war etwas älter als Mutti und hatte schon weiße Haare. Sie war außerordentlich freundlich, besonders zu mir, da sie selbst im Laufe des Krieges kinderlos geworden war, ihr einziger Sohn war leider gestorben nach einem tragischen Unfall beim Spielen in der Hitlerjugend. Er wäre aber auch zu dem Zeitpunkt schon achtzehn Jahre alt gewesen und möglicherweise Soldat geworden und vielleicht auch in dieser Tätigkeit bereits an irgendeiner der vielen Fronten gefallen.
Jedenfalls mochte Frau am Berge uns Kinder besonders und steckte uns häufig Süßigkeiten zu, wann immer wir sie zusammen mit Mutti besuchten. Da ich deshalb sehr gerne dorthin ging, hatte ich mir natürlich genau den Weg zu ihrer Wohnung gemerkt.
Dank meines unruhigen Schlafes kam es sehr häufig dazu, dass ich des Abends und in der Nacht immer wieder einmal aufwachte. Bei solcher Gelegenheit stellte ich trotz der herrschenden Dunkelheit eines Abends sehr schnell fest, dass meine unentbehrliche Mutti nicht zu Hause war. Ebenso bemerkte ich, dass Ursel fest schlief.
Also beschloss ich ausnahmsweise, mich nicht lautstark bemerkbar zu machen, zum Beispiel durch ein paar Tränen oder durch lautes Rufen, sondern meine Mutter suchen zu gehen. Denn sie hatte sich vorher, vor der angesagten Nachtruhe für uns Kinder, nach dem Abendbrot noch abgemeldet, so dass Ursel sie ohne Problem bei Frau am Berge finden würde, wenn etwas los wäre.
Denn genau dort wollte Mutti den Abend verbringen, es sollte Frau am Berges Geburtstag gefeiert werden.
Inzwischen war ich auch groß genug, um allein aus dem Kinderbett zu krabbeln. So schnell ich konnte, verließ ich also mein Gitterbettchen, bewegte mich ausgesprochen leise, um Ursel nicht zu wecken. Denn ich hatte beschlossen, Mutti allein bei Frau am Berge aufzusuchen.
Trotz des relativ warmen Herbstwetters war es abends leicht frostig geworden, so dass ich es für besser hielt, über mein Nachthemd einen Mantel anzuziehen.
Das Nachthemd bestand aus dem Nessel eines alten Betttuches, welches an einigen Stellen zerschlissen war und von einer freundlichen Nachbarin in Muffendorf, die eine Nähmaschine besaß, zu einem Nachthemd zugeschnitten und genäht worden war. Es reichte mir bis zu den Fußknöcheln, während der Mantel, ebenfalls extra für mich genäht aus grauem Uniformstoff einer nicht mehr gebrauchsfähigen Uniformjacke, nur gerade über den Po ging bis nicht ganz zu den Knien.
Derart abenteuerlich bekleidet, mit einer von meiner Schwester abgelegten, kaputten Puppe im Arm, marschierte ich tapfer, barfuß die Treppe hinunter, ließ geflissentlich die Haustür einen Spalt offen, um später wieder hineinzukommen, tänzelte über die kalten rauen Steine des Bürgersteigs hundertfünfzig Meter bis zur Straßenecke, bog dort nach rechts ab, um weitere fünfzig Meter zu laufen bis zur Wohnung von Frau am Berge, an deren Haustür ich zaghaft klopfte, allerdings zunächst ohne Erfolg.
Unbemerkt war mir ein Polizist gefolgt, der nun nach meinem Begehr fragte.
Unbefangen erklärte ich ihm, dass ich zu meiner Mutti wollte, die oben bei Frau am Berge säße und mit dieser Geburtstag feiere, und dass ich an dieser Feier teilnehmen wollte.
Der Polizist schellte und begleitete mich noch hinauf bis in die Wohnung, wo er mich lachend abgab und erzählte, wie ich wie ein kleiner Pausbackenengel über die Straße gelaufen wäre, und dabei nicht nur seine Heiterkeit erregt hätte, sondern auch einige Beobachter an den Fenstern der Häuser, an denen ich vorübergekommen war.
Er gratulierte auch herzlich zum Geburtstag, was Frau am Berge sehr in Erstaunen versetzte, denn sie hatte nicht erwartet, dass ich auch dieses dem Polizeibeamten erzählt hätte oder überhaupt wusste. Auch Mutti und Frau am Berge lachten herzhaft, als sie sich bildlich vorstellten, wie ich in meinem abenteuerlichen Gewand, wie ein kleiner Engel ohne Flügel allein über die dunkle Straße irrte.
Glücklich über meine selbständige, gelungene Aktion, saß ich stolz auf Muttis Schoß und genoss es, Mittelpunkt zu sein, und von Frau am Berge noch etwas Süßes zu bekommen.
Lange noch hatten Mutti und Frau am Berge darüber gelacht, wenn sie sich vorstellten, wie ich in der eigentümlichen Nachtbekleidung über die Straße geeilt war.
Noch mehr als dieses einmalige Erlebnis in Braunschweig genoss ich eigentlich, wenn Mutti sich mit mir ausgiebig beschäftigte, mir zum Beispiel abends vor dem Schlafen aus Grimms Märchenbuch vorlas oder mir eines der wenigen Schlafliedchen vorsang, die sie kannte. Eines meiner Lieblingsmärchen war das Märchen von den sieben Geißlein, das ich gar nicht oft genug hören konnte. Dabei achtete ich streng darauf, dass Mutti sich nicht versprach oder etwas vergaß, denn natürlich kannte ich das Märchen auswendig.
Gerne hörte ich auch das Märchen von Hänsel und Gretel, konnte aber überhaupt nicht verstehen, dass es so böse Eltern geben könnte, die ihre Kinder einfach aussetzen wollten, denn auch bei uns herrschte Not, und ich bekam, ebenso wie meine Schwester, nicht jeden Tag satt zu essen. Lange diskutierte ich dann mit meiner Mutter darüber, warum denn der Vater seiner neuen Frau, der Stiefmutter von Hänsel und Gretel, nicht widersprochen hätte.
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