Das interessierte mich bei weitem mehr, als die unglaubliche Geschichte von der Hexe, an die ich schon damals nicht recht glauben mochte, da ich das Vorhandensein von Hexen für schlecht unmöglich hielt. Andererseits glaubte ich wieder sehr gerne, dass die Tiere den Kindern halfen, den Weg nach Hause wiederzufinden. Mein sowieso sehr wenig ausgeprägtes Sohnesempfinden für meinen Vater wurde durch dieses Märchen nicht gerade gestärkt, da ich in der mangelhaften Kenntnis meines eigenen Vaters nur zu gerne annahm, dass Väter grundsätzlich nicht die gleiche Liebe für ihre Kinder empfinden konnten wie die leibliche Mutter.
Für ebenfalls recht unglaubwürdig hielt ich es, dass eine Stiefmutter dem Schneewittchen nach dem Leben trachtete, nur weil diese schöner war, als sie selbst. Für sehr gut möglich hielt ich es wiederum, dass es Zwerge gäbe und Prinzen, die das Schneewittchen erlösten, wenn auch da wieder das Ende der bösen Hexenstiefmutter mir doch allzu grausam und unwirklich vorkam.
So gab es für mich reichlich Diskussions- und Gesprächsstoff mit Mutti, da ich alle Märchen, die ich hörte, sehr genau analysierte und nicht nur als bloße Unterhaltungsquelle hinnahm. Leider bekam ich nur allzu oft von meiner Mutti die Antwort, dass ich noch viel zu klein sei, um das genau zu verstehen, was sie mir nicht erklären konnte oder wollte.
Der Sieg des Guten über das Böse wurde mir zu einem inneren Ritual, das einfach immer und überall Gültigkeit haben musste, wenn meine kleine Welt Bestand haben sollte. Alles Böse war mir Gräuel.
Natürlich gab es manchmal Zweifel, was denn als böse einzustufen sei, was eher noch gerade erlaubt sein könnte und was letztendlich wirklich böse war.
Wenn, was selten vorkam, Mutti mir einen Klaps gab, weil ich zum Beispiel etwas nicht essen wollte, was sie mir anbot oder wenn ich geschlabbert hatte statt aufzupassen, erhob auch ich meine Hand, um den Klaps zurückzugeben, weil ich eine solche körperliche Züchtigung grundsätzlich als ungerecht empfand.
Regelmäßig drohte Mutti dann damit, dass mein Händchen aus dem Grab wachsen würde, wenn ich es gegen die eigene Mutter erhöbe. Darüber dachte ich stundenlang nach und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass auch das, was Mutti da behauptete, nicht unbedingt wahr sein müsse. Natürlich hatte ich weder eine Vorstellung davon, dass und warum ich möglicherweise in einem Grab liegen könnte. Wohl war mir irgendwie vertraut, dass Menschen und Tiere nicht ewig leben konnten, dass sie auch auf einem Friedhof begraben wurden.
Selbstverständlich hatte ich auch schon mal mit Mutti einen Friedhof besucht, aber dass dort irgendwo Hände herauswuchsen, hatte ich beim besten Willen nicht entdecken können. Deshalb überraschte ich Mutti plötzlich mit dem dringend geäußerten Wunsch, mit ihr auf einen Friedhof zu gehen.
Obwohl ihr dieser Wunsch äußerst befremdlich vorkam und sie auch erklärte, dass wir auf dem Braunschweiger Friedhof niemanden besuchen könnten, den wir gekannt hätten, erfüllte sie mir schließlich meinen Willen, weil ich nicht locker ließ in meinem Bemühen, mit ihr auf einem Friedhof spazieren gehen zu wollen.
Sehr genau betrachtete ich jedes Grab, ließ mir erklären, was einzelne Grabmäler und Inschriften zu bedeuten hätten, fragte nach Blumen und anderem Grabschmuck, ohne jedoch auf mein eigentliches Anliegen zu sprechen zu kommen, nämlich Hände zu sehen, die aus dem Grab herauswuchsen.
Mutti freute sich außerordentlich über ihren so vielseitig interessierten Jungen, der mit seinen noch nicht einmal drei Jahren recht intelligente Fragen stellte.
Ich war nun vollkommen sicher, dass Mutti wieder einmal eine ihrer bekannten und berühmten Notlügen gebraucht hatte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass bei den vielen Gräbern, die wir besichtigt hatten, nicht ein einziger Begrabener dabei war, der nicht mal seine Mutti zurückgeschlagen hatte.
Aber darüber sprach ich nicht mit Mutti, denn ich wollte nicht, dass sie merkte, dass ich ihre Notlüge durchschaut hatte.
Vormittags machte Mutti häufig mit mir Spaziergänge in die nähere Umgebung. Am liebsten wanderten wir zu einem nahegelegenen Park und dort zu einem Ententeich, wo wir manchmal etwas altes Brot ins Wasser warfen und uns darüber freuten, wie die Enten danach schnappten.
Mittags fast pünktlich um zwölf Uhr kochte Mutti irgend etwas, was wir beide immer ganz pünktlich aßen, wenn Ursel nicht spätestens um ein Uhr aus der Schule kam. Mit Ursel zusammen aßen wir immer um ein Uhr. Kam sie später waren wir meistens schon um halb eins mit dem Essen fertig und Mutti legte mich in mein Kinderbett und sich selbst auf das Sofa, wo sie mindestens eine Stunde lang schlief.
Wenn Ursel dann während des Mittagsschlafes von der Schule kam, musste sie sich das noch warme Essen unter der Bettdecke ihres Bettes hervorholen und alleine essen.
Entgegen sonstiger Gepflogenheiten wurde Weihnachten 1943 nicht so feierlich begangen, vor allen Dingen fehlte Vati und es kam auch niemand zu Besuch. Das lag wohl hauptsächlich daran, dass die Wohnung dafür viel zu klein war, aber wohl auch daran, dass in allen Großstädten Deutschlands mehr Bomben fielen als der Führer und sein Volk es sich jemals hatten träumen lassen. Deshalb hatte die Regierung wohl auch jeglichen zivilen Weihnachtsreiseverkehr verboten. Ob noch weitere Gründe für dieses Verbot vorlagen, wurde nicht bekannt gegeben, war denn auch für uns unbedeutend, da wir nicht vorhatten, über die Feiertage irgendwohin zu verreisen oder jemanden zu besuchen.
Für uns war es in Braunschweig recht angenehm, weil dort tatsächlich viel seltener Flieger- oder Bombenalarm zu hören war, so dass ich mich ein wenig erholte, weil ich nun häufiger durchschlafen konnte, obwohl ich eigentlich nie richtig gemerkt hatte, dass ich überhaupt erholungsbedürftig war.
Auch Mutti und Ursel genossen die Ruhe, die hier herrschte, wobei ich davon weniger mitbekam, weil ich reichlich damit beschäftig war, an Muttis Rockzipfel zu hängen und ständig Muttis Schoß zu belagern, wann immer das möglich war.
Mutti war auch selten abgeneigt mich mit Liebkosungen zu verwöhnen, so dass ich die Existenz meiner Schwester nur dadurch überhaupt wahrnahm, weil auch diese ihrem kleinen, süßen Brüderchen ständig mit Umarmungen und Küssen ihre Zuneigung demonstrieren wollte. Das war keineswegs mir in jedem Fall angenehm, weil ich ihre stürmischen Liebesbeweise oft als störend und zu heftig empfand.
Bei all dieser familiären Harmonie fiel es schwer, auch für Mutti, Nachrichten mitzubekommen, dass am dritten November 1943 auf Anordnung Himmlers siebzehntausend jüdische Frauen und Männer bestialisch ermordet wurden. Obwohl näher dran, spürten wir in dem Braunschweiger Vorort auch nicht, dass britische Bomben schwerste Zerstörungen in Berlin verursachten.
Ganz sicher aber wusste in unserer Familie niemand, dass am 28, November 1943 in der Konferenz von Teheran ganz Europa aufgeteilt wurde in einer Form nach Beendigung des Weltkrieges. Am 29. November wurde Tito für lange Zeit Regierungs-Chef in Jugoslawien.
Allerdings mussten alle Bürger des deutschen Reiches mitbekommen, dass die deutsche Fußballmannschaft am vierten Dezember in Tokio eine japanische Mannschaft mit 3 : 0 besiegte, was immerhin eine gewisse Normalität demonstrieren sollte.
Genau am 24. Dezember , am heiligen Abend, erhielt Eisenhower den Oberbefehl für die Invasion in Frankreich, die im Jahre 1944 die endgültige Niederlage des Nazi-Regimes einleitete.
Am 30. Dezember 1943 brach die Rote Armee in der Ukraine durch, am 28. Januar war Leningrad nach neunhundert Tagen Belagerung und blutigster Kämpfe frei.
Am gleichen Tag wurde mit dem Film „Feuerzangenbowle“ mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle nachhaltig zur Schau gestellt, dass außer Krieg auch normale, lustige Dinge in Deutschland produziert werden konnten.
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