Harald W. Fiori - Erziehung, was ist das eigentlich? Wer schreit hat Recht?

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Erziehung, was ist das eigentlich? Wer schreit hat Recht?: краткое содержание, описание и аннотация

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Wer dieses Buch liest, wird Alltagssituationen wieder erkennen und sich immer wieder fragen, was denn eigentlich Erziehung ist. Darauf gibt dann der Diplompädagoge fachmännische Antworten. Allerdings muss nicht alles tierisch ernst genommen werden. Am besten liest man diese Anleitung mit dem Wunsch, sich unterhalten zu lassen!

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Kapitel 1

Geht’s wohl noch ein wenig lauter?

Müssen Menschen immer so laut brüllen, wenn sie mehr als fünf Personen in einer Gruppe sind? Gut, dass ich im Augenblick nicht reden möchte! Mit wem auch? Eigentlich bin ich todmüde, musste so früh aufstehen, nur wegen des Gruppenzwangs. Der Kegelklub hatte abgestimmt, dass wir mit dem Bus nach Stuttgart fahren sollten. Bei dieser Entfernung von etwa sechshundert Kilometern muss natürlich die Fahrt schon morgens um vier Uhr losgehen. Schwachsinn! Aber was tut man nicht alles für die Gruppe, den Klub!

Zuhören wäre angesagt. Wenn …………, ja wenn nicht dieses infernalische Gebrüll von da vorne hallen würde. Aber was will man machen? So sind sie eben, die Kegelklubs bei ihren Ausflügen. Nun wird auch noch die Fuselflasche rumgereicht. „Prost, Alex, nimm ‚nen ordentlichen Schluck! Nur im Suff ist das Leben noch erträglich!“ „Nun übertreib mal nicht, Walter! Heb dir noch was für später auf!“ „Mensch, Heinz, weißte noch, wie wir beim letzten Ausflug so blau waren, dass wir nicht mehr zum Hotel zurückgefunden haben!?“

Wen interessiert der Quatsch eigentlich? Ist aber ganz typisch, müssen angeben wie ...! Hallo, was ist los? Ach ich war gemeint.

„Was hast du gerade gesagt? Ich hab nichts verstanden! Ist so laut hier!“

Jetzt fangen meine eigenen Kegelschwestern und Kegelbrüder auch noch an, sich gegenseitig anzuschreien. Das kann ja heiter werden. Ach so, Irma will ne Antwort haben. „Was hast du gerade gesagt?“

„Haben wir auch so einen Muntermacher mit? Ich wollte gerade Schokolade verteilen! Möchtest du?“

Man muss ganz schön die Stimme anstrengen, wenn man sich bei dem Lärm unterhalten will. Deshalb donnere ich ein Nein danke zurück. Der Bus hält wieder an.

Ein Damenkegelklub. Das kann ja heiter werden. Helmut sitzt schon ganz gerade, Brust raus, Bauch rein!

Der Herrenkegelklub grölt ein lautes „Hurra, immer hereinspaziert. Wir baden gerade! Wollen die Damen auch ein Schlückchen! Hier ist noch ein Plätzchen frei zwischen uns beiden! Hallo, wer möchte auf meinen Schoß?!“

Gespielte Verachtung! Totales Ignorieren! Verstecktes Hinschauen! Man hat Platz genommen. Interesse verflogen. Gegröle geht weiter.

Stumm kreist ein Fläschchen Sekt bei den Damen. Da bricht der Damm:

„Helen guck mal, mit diesem BH schlag ich alle!“ „Gib nicht so an! Andere Mütter haben auch gut gewachsene Töchter!“ „Na dann Prost!“ „Susanne, was hat denn dein Mann gesagt, als du so allein weggefahren bist?“ „Bleib mir bloß mit dem Alten weg! Der wird sich schon in seiner Stammkneipe amüsieren!“

Was hat Lotte gerade gesagt. Also bei dem lauten Geplärre von Herren- und Damenstimmen, ist es ja wirklich nicht möglich, sich zu unterhalten. Wenn die nur nicht alle so schreien würden?!!

Hoffentlich sind wir bald da. Ob die sich in einem öffentlichen Verkehrsmittel auch so benehmen würden?

Klar doch! Dämliche Überlegung!

Das ist ja auch wissenschaftlich erwiesen. Schon bei den Primaten ist es so, dass sich zwei sehr gut unterhalten können, ohne dabei lauter zu werden als gerade zur Verständigung zwischen den beiden erforderlich ist. Vor allen Dingen, wenn es bei den Primaten um Gefühle geht oder ums gegenseitige Lausen, was dem Kuscheln oder Schmusen bei den meisten Nichtprimaten entspricht.

Mit wem möchte ich denn gerade mal lausen?

Auch drei Personen finden sich zusammen und können miteinander kommunizieren.

Ab vier Partnern werden die Unterhaltung und die Verständigung schwieriger, fünf sind gerade noch eine einheitliche Gruppe.

Danach wird es unmöglich, sich miteinander überhaupt auf ein Thema zu verständigen. Sehr wahrscheinlich wird dann schon eindeutig klar, dass zwei miteinander eine Konversation führen, die sich sympathisch sind (oder gerade auch nicht, denn man kann auch trefflich streiten in so einer Gruppe), während die restlichen weitestgehend ausgeschlossen werden, einen eigenen Kommunikationskreis bilden.

Dabei spielt die Sitz- oder Rangordnung keine Rolle. Die Zwei, die es miteinander können, sitzen ganz weit auseinander oder ganz nah. Die anderen sind ebenfalls von ihren Gesprächspartnern weit entfernt.

Und schon ist nicht nur Musik oft mit Lärm verbunden, sondern auch ein ganz harmloses Gespräch.

Wie verhält sich eine Gruppe?

Die Gruppe ist stark. Jeder in der Gruppe ist ebenso stark oder noch stärker. Also ist das Grölen eines Kegelklubs oder einer Fangruppe, ganz gleich wovon auch immer Fan, ein Ausdruck der Stärke. Stärke vermittelt Sicherheit.

Weil ich in der Gruppe sicher bin und stark, darf ich in der Gruppe auch laut sein. Je lauter desto besser, desto sicherer, desto stärker bin ich.

Was macht ein Mensch, wenn er allein ist und Angst hat? Entweder verkriecht er sich oder er macht Lärm, um möglichst stark zu wirken. Je mehr Lärm, desto weniger böse Geister.

Ist ein ganz alter Karnevalsbrauch, ein Silvesterbrauch auch. Wer stark ist, darf lauter lärmen. Nur Schwache müssen sich verstecken! Ich gröle, also bin ich wer. Oder wie soll ich in diesem Fall übersetzen „cogito, ergo sum“? Früher hieß das übersetzt „Ich denke, also bin ich.“?

Um klarzustellen, es geht nicht darum, Fanklubs oder Kegelklubs zu diskriminieren. Kegelklubs sterben sowieso bald aus. Junge Leute treffen sich zwar auch gerne, aber nicht in Klubs oder in Vereinen.

Meistens trifft man sich im Internet. Das ist unheimlich bequem. Im Internet muss man sich nur ganz wenig bewegen. Man sitzt bequem an seinem Computer oder Notebook, ist gleichzeitig im Chatroom oder bei facebook oder google, Twitter oder sonst wo bei Microsoft und ist in einer riesigen Gruppe, wird aber nie durch Lärm gestört, wird auch niemals unterbrochen, es sei denn, der Provider schaltet gerade mal ab.

Trotzdem ist man ganz allein, kann ganz individuell seine Innerstes nach außen kehren, für Millionen sichtbar und doch völlig anonym. Wozu da noch rausgehen? Ich bin ganz ungezwungen ganz allein in einer riesigen Gruppe! Herrlich!

Wieso denke ich gerade jetzt an meinen Beruf? So etwas hatte ich doch schon einmal erlebt:

Es ist wirklich ausgesprochen laut. Zweiunddreißig Kinder im öffentlichen Verkehrsmittel, etwa zehn Erwachsene, teilweise sehr erwachsen.

Das Ziel der Schulklasse ist ein Zoo. Die Eintrittskarten hat der Lehrer. Die Jungen machen blöde Witze und grölen ein wenig. Sie sind jetzt ganz stark. Müssen sie auch, sie sind ja in einer großen Gruppe.

Die Mädchen unterhalten sich. Müssen sie auch. Sie sind auch in einer Gruppe. Ein Wunder, dass die Kinder überhaupt verstehen, was sie da einander zurufen. Aber ein sehr erwachsener Herr mit hochrotem Kopf ist noch lauter:

„Geht es vielleicht auch ein ganz klein wenig leiser! Das kann man ja nicht aushalten! Wer ist denn hier der Lehrer? Rausschmeißen müsste man diese Bande!“

Die starken Gruppen haben das verstanden, trotz des Lärms. Sie werden lauter, bedrohlich laut. Lebensbedrohlich laut. Der Lehrer ist nicht in einer Gruppe. Er ist nicht stark. Er wäre gerne stark.

Der Lehrer bin ich. Ich mache mich klein, ganz klein.

Einige Schüler blicken zu mir herüber. Was macht der Lehrer jetzt? Wird er für Ruhe sorgen?

Was soll ich tun? Soll ich mich outen, als derjenige, der diese übermäßig laute Horde beaufsichtigt? Soll ich gegen den Lärm anschreien, um mit noch lauter lärmender Stimme dem Lärm Einhalt zu gebieten? Eigentlich finde ich gar nicht, dass die Kinder zu laut sind. Sie unterhalten sich nur. Das geht in einer solchen Gruppe eben nicht leiser, wenn viele gleichzeitig sprechen.

Was würde der Herr sagen, wenn hier statt der Kinder drei Kegelklubs mit entsprechender lautstarker Unterhaltung erwartungsvoll im Bus säßen?

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