Was war nun Wahrheit, der schöne Kindertraum oder das böse Erwachen von Mutti und meiner Schwester Ursula? Ich jedenfalls wollte das nie genau wissen und erinnerte mich deshalb zeitlebens nur an den Traum und nicht an das Unangenehme dieser Angelegenheit.
Die Wohnung in Muffendorf hatte einen gewaltigen Nachteil. Sie lag viel zu hoch oben. Mutti scheute es, die vielen Stufen mit mir oder auch nur so zum Einkaufen hinunterzusteigen, weil das zu anstrengend für sie war. Ursel konnte zwar schnell und ohne allzu große Kraftanstrengung diese ganze Treppe hinauflaufen, wobei es runter noch viel schneller ging, weil sie meistens das Treppengeländer hinunterrutschte, sehr zu Muttis und vor allen der Nachbarinnen Leidwesen, die das aus welchen Gründen auch immer nicht billigen mochten.
Natürlich nahm Mutti es in Kauf, dass sie täglich einmal zum Einkauf die Stiegen bis zur Haustür hinunter benutzen musste, obwohl der Einkauf selbst immer knapper ausfiel, weil das Warenangebot in den Läden immer spärlicher wurde.
Andererseits aber liebte Mutti Spaziergänge, auf die sie nicht verzichten mochte und es gab bei den benachbarten Landwirten doch das eine oder andere zu kaufen, zu tauschen oder auch zu schnorren, wenn diese nachbarlichen Bauern Mitleid hatten mit mir, dem kleinen blassen Buben mit den großen blauen Kinderaugen.
Oft wartete Mutti, bis Ursel aus der Schule kam, um dann alleine hoch zu laufen, während Ursel gleich unten blieb, um mit mir zu spielen oder mich auch nur zu beaufsichtigen, bis Mutti oben das Essen fertig hatte und uns durch das Fenster hineinrief.
Immer häufiger kam es allerdings zu Fliegeralarmen, die ganz besonders in den Abend- und Nachtstunden zunahmen. Dann mochte Mutti überhaupt nicht die vielen Treppen hinunter laufen. Sie nahm mich regelmäßig auf den Arm, bedeutete mir durch Fingerzeig auf ihren und auch auf meinem Mund, dass ich absolut ruhig bleiben sollte, flüsterte auch Ursel eindringlich zu, nur ja keinen Mucks von sich zu geben.
Fast regelmäßig riefen dann die Nachbarinnen von unten unsere Namen, manchmal war auch eine Männerstimme zu hören, wohl die des Blockwartes. Aber wir rührten uns nicht. Mutti hatte einfach mehr Angst, die Treppe hinunter zu gehen als davor, dass es eventuell in unser Haus einschlagen könnte. So saßen wir im dunklen Flur auf der Treppe, hörten in der Ferne oder auch näher die Einschläge von Bomben, oft auch starke Motorgeräusche von Flugzeugen.
Immer waren wir froh, dass wir nicht in den Bunker geeilt waren, natürlich auch sehr erleichtert, wenn die Sirenen Entwarnung verkündeten und der ganze Spuk vorüber war.
Trotz meines geringen Alters hatte ich sehr wohl schon begriffen, dass es darum ging, nicht in den engen, menschenüberfüllten Bunker zu müssen, den ich mehr hasste als alles andere, was mich in jener Zeit bedrücken konnte. Deshalb war ich auch immer sehr artig und still, wenn andere daran zweifelten, dass wir das Haus verlassen hätten beim Fliegeralarm. Auch nach der Entwarnung nahm die hochnotpeinliche Vernehmung kein Ende, wenn die neugierigen Nachbarinnen wissen wollten, wo wir denn während des Angriffs gewesen wären, da uns auch keine Menschenseele habe zurückkommen sehen.
Mutti war nie um eine Lüge verlegen, Notlügen nannte sie das. Entweder waren wir zufällig gerade unterwegs gewesen und dort in den nächstliegenden Bunker geflüchtet, oder wir waren wieder einmal zu Besuch bei der Großmutter und mit dieser in den hauseigenen Luftschutzkeller gegangen. Trotz aller Zweifel mussten die Nachbarn diese Aussagen glauben, da sie auch von Ursel und mir bestätigt oder nicht in Frage gestellt wurden.
Tatsächlich richteten die ständigen Bombenangriffe, tagsüber auf militärische Ziel und nachts auf alle möglichen Städte und Stadtzentren erheblichen Schaden an, viele tausend Menschen fielen diesen Bombenteppichen zum Opfer. Wie nah wir oft waren, mag man daran sehen, dass in der Nacht vom 11. zum 12. Juni 1943 2000 Bomben auf Düsseldorf geworfen wurden, wobei die ganze Stadt in Flammen stand und 120.000 Menschen obdachlos wurden.
Die Alliierten bombardierten in den folgenden Nächten Bochum, Oberhausen, Krefeld, Mülheim an der Ruhr und Wuppertal-Elbehrfeld, Städte die komplett in Schutt und Asche gelegt wurden. Schwere Angriffe folgten auf Gelsenkirchen und Köln, das zum wiederholten Male heftig angegriffen wurde.
So rissen in der Nacht vom 28. zum 29. Juni Bombeneinschläge einen Teil des Kölner Doms weg. Es kamen nicht nur mehr als 500.000 Menschen durch die Flächenbombardierung um, sondern es wurden auch unschätzbare Kulturdenkmäler zerstört.
Trotz aller Durchhalteparolen der NS-Führung verloren die Menschen mehr und mehr das Vertrauen zu ihrem Führer, immer häufiger kam es zu offenen Revolten.
Zahlreiche Evakuierungen sollten dafür sorgen, dass Mütter und Kinder in Sicherheit gebracht wurden, obwohl es kaum noch größere Städte gab, in denen man wirklich sicher sein konnte.
Wir wurden nach Braunschweig evakuiert. Mutti hatte sich dafür etwas ganz Besonderes ausgedacht, weil sie gerne ein paar Möbel und Gebrauchsgegenstände mitnehmen wollte, die mit der Bahn sehr schlecht zu transportieren waren.
Sie hatte ein Fuhrunternehmen ausfindig gemacht, das zur Zeit unserer Evakuierung, Ende Oktober 1943, einen Transport in Richtung Braunschweig durchführen musste. So konnte Mutti ihre Habseligkeiten auf die offene Ladefläche eines Salztransporters deponieren.
Auch wir selbst mussten auf der Ladefläche mitfahren. Das Abenteuer begann spät abends in der Dunkelheit. Mutti hatte in der Mitte des mit den schweren Salzsäcken beladenen Lastwagens zwischen den Säcken eine Lücke entdeckt, die groß genug war, jeweils eine kleine Person aufzunehmen, so dass wir dort im Kreis auf den Salzsäcken sitzen und die Beine in dieses Loch stecken konnten.
Der Wagen fuhr nicht besonders schnell, da er trotz der Dunkelheit nicht, oder meistens nicht mit Licht fahren durfte, um nicht als Ziel für feindliche Schützen oder Flieger sichtbar zu sein. Trotzdem war der nächtliche Fahrtwind so kalt, dass wir schon sehr bald schnatterten und zitterten vor Kälte.
Da mir das Sitzen oben auf den Säcken sowieso ausgesprochen schwer fiel, hatte ich schon sehr bald entdeckt, dass in dem Loch, in das ich hineinrutschte, eine sehr angenehme Wärme herrschte ohne den entsetzlichen, eisig kalten Fahrtwind.
Natürlich blieb meine Entdeckung kein Geheimnis, und auch Ursel wollte hin und wieder in den Genuss einer etwas behaglicheren Fahrt kommen, die das Loch mit seiner Wärme tatsächlich bot. Das führte einerseits zu einem Streit, weil tatsächlich nur wirklich eine einzige kleine Person diesen geschützten Raum nutzen konnte, nicht einmal Mutti, die dafür zu groß war, andererseits flossen wegen der abscheulichen Kälte und dem elementaren Bedürfnis, uns in diesem Loch aufwärmen zu können auch reichlich viele Tränen.
Denn immer, wenn Mutti dafür sorgte, dass auch Ursel sich aufwärmen durfte, flossen meine Tränen nicht nur, weil ich den schönen Platz für mich allein beanspruchte, sondern vor allem, weil die Kälte tatsächlich schmerzhaft in die Haut biss. Auch Ursel weinte, wenn sie ihrerseits nach einigen Minuten ihrem Brüderchen Platz machen musste.
Nur Mutti harrte tapfer aus und lehrte uns auf diese unfreiwillige Weise, uns sozial und mitfühlend zu verhalten. Auch wenn diese Lehre nicht sofort ihre Früchte zeigte und jeder von uns immer wieder eifersüchtig darauf achtete, dass die Zeit in der Wärme nicht für den anderen etwa ein wenig zu lang ausfiel.
Trotz aller Kälte und aller Strapazen, die diese Fahrt zu einem Horrorerlebnis werden ließ, schlief ich nach einigen Stunden ein. Ich erwachte erst wieder durch ein gleißendes Licht, das durch meine geschlossenen Augenlider drang. Unsanft wurde ich daran erinnert, dass ich nicht daheim in meinem Bettchen schlief sondern auf einer harten Bank, den Kopf in Muttis Schoß gebettet.
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