Die Pachtverträge für das Land lagen schon für sie bereit. Sie nahm sie mit zu ihrem Platz und sah sich den ersten an. Er wurde genau an dem Tag ausgestellt, als auch der Grundbesitz Diether von Riekhens an das Herzogtum übereignet wurde. Der Pächter des Landes war ein Bernhard Stuhrke. In einer Bemerkung war ausgeführt, dass er mit seiner Frau Martha in gleicher Weise wie bisher fortfahren soll, die auf dem Landstück befindliche Mühle zu bewirtschaften. Dann war noch der Pachtzins angegeben, mit dem Hinweis, dass dessen Höhe ebenfalls unverändert war.
Editha nahm sich den zweiten Pachtvertrag vor, der 14 Jahre später abgeschlossen worden war. Sie las den Namen des Pächters und näherte sich mit ihrem Gesicht unwillkürlich dem Papier, weil sie nicht glauben konnte, was dort geschrieben stand: Herold Riekhen. Ihr Mehrfach-Urgroßvater war der spätere Pächter des Landstücks, das seinem Vater einmal gehörte. Warum war ihr das Dokument nicht schon bei ihrer Online-Recherche vom heimischen Computer aus aufgefallen? Ja, richtig, nachdem sie das Übertragungsprotokoll gefunden hatte, hatte sie sich so auf diese Spur fokussiert, dass sie die anderen Treffer gar nicht weiter durchgegangen war.
In dem Pachtvertrag mit Herold Riekhen war, neben der Angabe des Pachtzinses und sonstiger Konditionen, wieder eine Bemerkung vorhanden: Er sollte mit seinem Bruder Jacob in gleicher Weise wie bisher sein Stiefvater fortfahren, die auf dem Landstück befindliche Mühle zu bewirtschaften.
Und wieder starrte Editha überrascht auf das Papier. Jacob? Herolds Bruder? Also Jacob Riekhen? Da waren sie, die Initialen: J. R. stand für Jacob Riekhen. Das Buch war demnach vom Bruder ihres Soundsoviel-Urgroßvaters geschrieben worden.
Merkwürdig nur, dass es in den Kirchenbüchern keinen Eintrag zu Jacob Riekhen gab, als wäre er nie geboren worden und auch nicht gestorben, zumindest nicht in Oldenburg.
Sie warf noch einen Blick auf den dritten Pachtvertrag und wie sie schon vorher vermutete, war dieser mit dem Nachkommen Herold Riekhens abgeschlossen worden, von dem sie ja die Daten in den Kirchenbüchern gefunden hatte.
Nun hatte sie alles, was sie wollte. Sie machte von den für sie interessanten Dokumenten Kopien und sortierte sie wieder an die richtigen Plätze.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es soweit war, nach Hause zu gehen. Sie hatte ein älteres Mädchen aus dem Karatekurs zum Babysitten gewinnen können und die vereinbarte Zeit war bald herum.
»Komme so bald wie möglich wieder zurück«, mahnte Herold. »Eigentlich brauche ich dich auch hier.«
»Ja, ja.«
Jacob war schon fast weg, froh mal fortzukommen. Bei der normalen Mühlenarbeit konnte er zwischendurch wenigstens mit Friedhelm herumulken, aber da der für die Reparaturarbeiten nicht zu gebrauchen war, hatte Herold ihn vorerst nach Hause geschickt.
Jacob sollte wieder eine Besorgung in der Stadt machen. Herold hatte ihm etwas von dem Geld mitgegeben, das sie sich von Herrn von Elmendorff geliehen hatten und ihm aufgetragen, was er kaufen sollte. Also schmiss sich Jacob seine Hasenfelltasche über die Schulter und machte sich auf den Weg.
Doch keine hundert Schritte von der Mühle entfernt kamen ihm ein Mann in den Vierzigern und zwei jüngere Kerle, die diesem sehr ähnlich sahen, entgegen. Was wollten die hier? Sie alle guckten grimmig, und sie sprachen miteinander, als sie ihn erblickten.
Schließlich standen sie sich gegenüber.
»Ist er das?«, fragte der Ältere. Er war nicht viel größer als Jacob, aber sehr kräftig gebaut.
Der Kerl zu seiner Linken nickte. Er und der andere waren wohl ein paar Jahre jünger als Jacob. Sie hatten die typische schmächtige Statur von Heranwachsenden.
»Wer soll ich sein?«, fragte Jacob. Er kannte weder den Älteren noch seine Söhne. Was sollte er mit ihnen zu tun haben?
Anstatt zu antworten, stellte der Ältere ihm eine Frage.
»Kennst du meine Tochter Clara? Ungefähr so groß,« er zeigte eine Höhe mit der flachen Hand, »braunes, langes Haar.«
An Clara konnte Jacob sich allzu gut erinnern. Aber er hatte das Gefühl, dass es besser war, sie erst mal nicht zu kennen.
»Hm, sagt mir nichts. Wieso?«
»Meine Söhne hier sagen aber, dass du es bist, den sie meint. Vor einigen Wochen hast du mit ihr auf dem Markt angebändelt.«
Jacob zuckte mit den Schultern. Er hatte zwar mit Clara ein paar äußerst süße Stunden verbracht, doch das war nicht gerade etwas, das man ihrem Vater und ihren Brüdern anvertraute.
»Tut mir leid, dass ich euch da nicht weiterhelfen kann.«
Er wollte weitergehen und die drei einfach stehenlassen, aber der Alte packte ihn am Ärmel und hielt ihn fest.
»Wir sind noch nicht fertig, Jungchen. Clara ist schwanger.«
Ach, du Scheiße, das fehlte ihm noch.
»Äh - das war ich nicht.« Er merkte selber, wie dumm das klingen musste. »Kann sein, dass ich ihr auf dem Markt begegnet bin, aber wir haben nur kurz miteinander gesprochen.«
»Clara sagt aber, dass du der Einzige bist, mit dem sie je zusammengewesen ist. Du musst dazu stehen, sie heiraten und sie und das Kind versorgen.«
»Nie und nimmer! Ich bin nicht der Vater des Kindes.«
Jacob erinnerte sich, dass er Clara entjungfert hatte. Doch das hieß ja nicht, dass sie nicht hinterher etwas mit anderen Männern gehabt hatte.
»Clara behauptet es aber.«
Verdammt noch mal, wie kam er hier bloß wieder heraus?
»Vielleicht lügt sie ja. Kann doch sein, dass sie sich an mich vom Markt her erinnert und dass sie mit jemanden zusammen war, den sie nicht kennt, oder der nicht von hier ...«
Weiter kam er nicht. Claras Vater packte ihn erneut an der Jacke und schüttelte ihn so, dass seine Tasche herunterfiel und der Inhalt auf dem Boden verteilt wurde.
»Willst du damit sagen, dass meine Tochter eine Hure ist?«, schrie er Jacob an. »Du verdammter Weiberheld. Du bist genau so ein Halunke, wie dein Vater früher war.«
Er holte weit aus und verpasste Jacob eine schallende Ohrfeige, sodass er zu Boden ging. Der Mann packte ihn erneut und zog ihn wieder hoch.
»Was ist hier los?«, hörte Jacob unvermittelt hinter sich Herolds Stimme.
Einmal mehr kam sein Bruder im rechten Moment.
Claras Vater lockerte den Griff und sah zu Herold.
»Was geht dich das an?«, fragte er.
Herold nickte in Jacobs Richtung und kam näher.
»Ich bin sein Bruder, und wenn du ihn angreifst, geht mich das sehr viel an. Lass ihn los.«
Die beiden Jungen wichen ängstlich vor Herolds hünenhafter Gestalt zurück und der Vater ließ Jacob los. Es schien, als wollte er etwas zu Herold sagen, tat es dann aber doch nicht. Offenbar hielt er momentan alle Mühe für vergebens.
»Für heute lass ich es darauf beruhen. Aber so lange du nicht zu deinen Taten stehst, solltest du dich gut umsehen, wenn du alleine unterwegs bist«, sagte er zu Jacob.
Er winkte seinen Söhnen und sie gingen fort.
»Was sollte das bedeuten?«, fragte Herold.
Jacob bückte sich und suchte seine Schreibutensilien zusammen, die auf dem Boden verteilt waren.
»Keine Ahnung, die müssen mich verwechseln.«
Mit der Wahrheit nahm er es ja nie so genau, aber er fühlte sich nicht gerade wohl dabei, seinen Bruder anzulügen. Es war halt eine Notlüge.
Herold sah ihn scharf an.
»Fang nicht mit allen Leuten, die dir begegnen, Streit an. Als Müller haben wir es auch so schon nicht leicht. Da muss man sich nicht noch zusätzliche Feinde machen.« Er dreht sich um und ging zur Mühle zurück.
Jacob legte seine Sachen in seine Tasche und machte sich auf den Weg zur Stadt, in der Hoffnung, den Kerlen nicht nochmal zu begegnen.
Auf dem Markt herrschte ein reges Treiben. Viele Oldenburger Bürger waren unterwegs, um sich mit Lebensmitteln einzudecken. Die meisten sahen gut gelaunt aus, wozu das schöne Wetter sicherlich seinen Teil beitrug. Jacob ging an ein paar Kindern vorbei, die eine tote Maus an einen Faden gebunden hatten und nun versuchten, eine Katze zum Spielen zu bewegen. Die Katze, die offenbar wusste, dass kein Leben mehr in der Maus war, hatte daran nicht das geringste Interesse, sie sah den Anstrengungen der Kinder mit halb geschlossenen Lidern zu.
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