Zur Mittagszeit lag er wieder auf dem Küchentisch und nachmittags erneut auf dem Schreibtisch und das Spiel vom Vormittag wiederholte sich.
Am Abend saß Editha auf ihrem Sofa. Timo war schon eine Weile im Bett. Die Blätter mit der in lateinische Buchstaben übertragenen Version der ersten 30 Buchseiten befand sich vor ihr auf dem Couchtisch. Jetzt hatte sie Zeit, in Ruhe darin zu lesen. Sie atmete tief durch und genoss die Ungestörtheit. Gleich würde sie anfangen, nur einen Moment die Augen schließen.
Nach diesem Moment sah sie das Heftchen wieder an und sie begriff, warum sie den ganzen Tag noch kein Wort davon gelesen hatte. Nicht etwa, weil sie keine Zeit oder keine Ruhe dazu hatte. Nein, da hatte sie schon weitaus stressigere Tage hinter sich. Der eigentliche Grund war, dass sie Angst hatte.
Was wäre, wenn es so wie letztes Mal sein würde? Wenn sich der Ablauf der Dinge wiederholte? Wenn sie von einem Geschehnis läse, und sie hinterher abermals eine Vision davon hätte? Beim ersten Mal fand sie es erschreckend. Und anschließend wäre ihr womöglich wieder so schlecht. Der Gedanke daran machte ihr eine Gänsehaut.
Aber andererseits wollte sie genau das. Sie wollte nochmal durch die Augen dieses Mannes aus längst vergangener Zeit sehen, wollte seine Gefühle fühlen, wollte das erleben, was er erlebte. Diese Möglichkeit übte eine gewaltige Anziehungskraft auf sie aus, als wäre sie einer Sucht bereits nach dem ersten Anfixen verfallen.
Sie starrte die Blätter an. Das war doch Unsinn. Wer sagte, dass es wieder so kommen würde? Wahrscheinlich war das sowieso ein einmaliges Erlebnis.
Mit einem Ruck beugte sie sich nach vorn und griff sich die Blätter. Sie lehnte sich ins Sofa zurück und begann, auf der ersten Seite zu lesen.
Wie sie bereits in der Originalfassung anhand der Jahreszahlen festgestellt hatte, hatte J. R. etwa drei Jahre vor diesem Überfall am Lappan damit begonnen, das Buch zu schreiben. Im Gegensatz zu der Szene, die sie schon kannte und die in einer Art Romanstil verfasst war, wurden die ersten Seiten im typischen Tagebuchstil geschrieben. Dabei waren die Einträge eher sporadisch, alle paar Wochen oder Monate wurden nur besondere Erlebnisse ergänzt. Die Beschreibungen waren sehr kurz und knapp gehalten, sodass die ersten 30 Seiten bereits mehr als zwei Jahre überspannten. Neben der Schilderung der Erlebnisse hatte J. R. das beschrieben, was sie Visionen nannte. Er nannte sie »Gesichte«. Diese hatte er seit frühester Kindheit. Er lebte im 18. Jahrhundert und schrieb von Dingen, die er eigentlich noch nicht kennen konnte, wie Autos und Smartphones. Die Begriffe kannte er natürlich nicht, sodass er die Dinge umschrieb. So bezeichnete er Autos als pferdelose Kutschen.
Die Geschehnisse, die er schilderte, hatte er durch die Augen einer Frau gesehen, wie man an den Formulierungen merkte, aber ihr kamen sie gänzlich unbekannt vor. Vielleicht hatte er diesen Austausch mit verschiedenen Frauen in ihrer Zeit.
Andererseits kamen ihr die Gefühle und Sinneswahrnehmungen seltsam vertraut vor, so als würde er von ihr sprechen. War es möglich, dass diese Ereignisse ihr noch bevorstanden, also in ihrer Zukunft lagen?
Aber das würde ja bedeuten, dass dieser Mann regelmäßig in ihrem Körper steckte. Er bekam mit, was sie fühlte, was sie dachte und tat. Jederzeit könnte er erscheinen und sie beobachten.
Editha lief ein Schauder über den Rücken. Wenn ein Fremder Kameras in ihrer Wohnung installiert hätte und sie ständig beobachten würde, hätte sie sich nicht anders gefühlt.
Unheimlich berührt warf sie die Blätter zurück auf den Tisch, als wären sie mit ekligem Schleim bedeckt.
Plötzlich war sie völlig erschöpft. Sie beschloss, heute sehr früh ins Bett zu gehen.
Zu ärgerlich: Editha knurrte jetzt schon der Magen, weil sie heute früh in der Eile noch nicht zum Essen gekommen war und sich nur etwas eingepackt hatte mit dem Hintergedanken, es während der Recherche zu essen. Doch auf der Glastür, durch die sie in den großen Hauptraum des Staatsarchivs gehen wollte, prangte ein Schild, das sogar die Mitnahme ihres Rucksackes untersagte. Eigentlich hätte sie sich das aber auch denken können, dass man hier die Dokumente vor schmierigen Fingern und Kaffeeflecken bewahren wollte. Da sie jetzt keine wertvolle Zeit verlieren wollte, musste sie wohl eine Weile Kohldampf schieben.
Zu ihrer Linken sah sie einen Bereich mit Schließfächern für die Dinge, die im Rechercheraum unerwünscht waren oder von den Besuchern aus eigenem Interesse nicht mitgenommen werden sollten. Sie ging zum ersten Schrank, fütterte ihn mit einem Euro, schloss ihre Sachen ein und war dann bereit den Hauptraum zu betreten.
Die Dokumente, die sie für die Einsichtnahme angemeldet hatte, lagen schon für sie parat. Ein recht freundlicher Mann mittleren Alters gab ihr dazu noch ein paar Hinweise und bat sie dann an einem der Tische für ihre Recherche Platz zu nehmen.
Editha breitete die Unterlagen, so gut es ging, auf der vorhandenen Fläche aus. Sie hatte nun alle 28 Übertragungskontrakte, die sie vorab online entdeckt hatte, vor sich liegen: den einen zwischen Diether von Riekhen und dem Herzogtum Oldenburg und die 27 zwischen dem Herzogtum Oldenburg und verschiedenen anderen Personen.
Zuerst nahm sie sich Diether von Riekhens Kontrakt vor und las ihn sorgfältig durch. Er war zwar auch in altdeutscher Schrift verfasst, aber es handelte sich um Druckschrift, die sie einigermaßen entziffern konnte. In dem Dokument stand, dass das gesamte Grundeigentum inklusive aller Gewerke an das Herzogtum Oldenburg übergegangen war, und zwar ohne Gegenleistung. Unter Zuhilfenahme natürlicher Begrenzungen wie Bäche und Erhebungen war angegeben, wo sich die Ländereien befanden.
Editha runzelte die Stirn. Sehr eigenartig: Warum wurde der gesamte Landbesitz Diether von Riekhens, mit allem, was sich darauf befand, einfach an das Herzogtum übergeben? Das war ja quasi eine Enteignung.
Ob so etwas öfter vorkam? Sie nahm sich die 27 weiteren Kontrakte und ging sie einen nach dem anderen durch. Tatsächlich kam es noch mehrmals vor, dass Grundeigentum in den Besitz des Herzogtums überging. Aber es wurde auch Grundeigentum vom Herzogtum an Bürger übereignet. In einem Fall behandelten zwei zeitlich aufeinander folgende Kontrakte das gleiche Landstück, das zuerst von einem Bürger auf das Herzogtum überging und einige Tage später auf einen anderen Bürger.
Das brachte Editha auf eine Idee: Vielleicht wurde Diether von Riekhens Grundbesitz ja ebenfalls später einem anderen Bürger übereignet. Sie verglich die Daten der Ländereien mit denen der anderen Kontrakte. Beim neunten Dokument wurde sie fündig. Hierbei handelte es sich, bis auf ein kleineres Landstück, das nicht mit aufgeführt war, um die gleichen Ländereien, die früher Diether von Riekhen gehörten. Diese wurden drei Jahre später an einen Barthel von Zölder übertragen für die Gegenleistung von einem Reichstaler.
Editha wusste nicht, wie hoch der Wert eines Reichstalers gewesen war, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er als Bezahlung für einen größeren Landbesitz niemals ausreichend gewesen war.
Aber was war damals mit dem kleineren Landstück passiert, das nicht an diesen Barthel von Zölder gegangen war? Sie nahm den Übertragungskontrakt mit den Daten des Landstücks, ging damit an einen der Recherche-Computer und gab die Daten in die Suchmaske ein. Mehrere Dokumente wurden angezeigt: Zum einen natürlich die beiden Übertragungskontrakte und außerdem noch drei Pachtverträge für dieses Landstück. Sie notierte sich die Bezeichnungen der Dokumente und ging zu dem Herrn von vorhin, der die Dokumente – ausnahmsweise, wie er betonte – für sie heraussuchen wollte. Während der damit verbundenen Wartezeit begab sie sich kurz in den Vorraum und holte ihr Essen aus dem Schrank, um sich zu stärken. Danach galt es, schnell zurück an die Arbeit zu gehen.
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