»Musst du hier so rumschreien? Es muss ja nicht jeder unsere Angelegenheiten mitbekommen.« Sein Griff war so stark, dass Jacobs Handgelenk schmerzte. Er riss sich los und blieb wieder stehen.
»Dann erzähl mir endlich, was mit unserer Familie los ist«, giftete er Herold an.
»Ja, in Ordnung, aber komm mit. Die Leute zeigen ja schon auf uns.« Er ging voraus, wesentlich langsamer, und Jacob folgte ihm. »Was diesen Gefallen angeht, weiß ich genauso wenig wie du. Ich habe keine Ahnung, welchen Gefallen Vater ihm getan hat.«
»Und was ist mit den anderen Dingen?«
»Welchen anderen Dingen?«
»Nun stell dich nicht dumm. Diese Häufung von Andeutungen über unsere Familie ist ja wohl äußerst merkwürdig. Zuerst die Bemerkung dieser Raufbolde in der Gastwirtschaft: Der Rest würde uns auch noch genommen werden. Der Rest wovon? Heißt das, uns wurde schon mal etwas genommen?« Herold sagte nichts. Sie überschritten jetzt den Marktplatz, die Silhouette der Gebäude glitt an ihnen vorüber: die Lambertikirche, das Rathaus. Normalerweise genoss Jacob das, doch heute hatte er andere Dinge im Kopf. »Dann von Zölder, ich wäre genauso wie Vater vor 20 Jahren. Kannte er ihn damals?«
Herold räusperte sich.
»Naja, 20 Jahre ist eine lange Zeit ...«, antwortete er ausweichend.
Jacob schüttelte den Kopf. Sein Bruder wollte ihm schon wieder keine Antworten liefern.
»Und jetzt spricht von Elmendorff von irgendwelchen Ereignissen und sagt, dass er bedauere, was damals geschehen ist.« Erneut blieb er stehen und wurde wieder lauter. »Verdammt, nun rücke schon raus mit der Sprache.«
Herold packte ihn abermals am Handgelenk und zog ihn mit.
»Ja, es stimmt«, raunte er. »Es ist damals etwas geschehen, wodurch sich unser Leben verändert hat. Ich war damals jedoch noch ein Kind und habe daher auch nicht alles mitbekommen. Das, was ich weiß, werde ich dir erzählen. Aber nicht jetzt.«
»Warum nicht?«
»Weil wir jetzt da sind, wo wir hinwollen.«
Herold wies auf das Gebäude, vor dem sie standen.
»Was willst du denn hier?«
»Na, was will man schon bei der Post«, sagte Herold und stieg die Stufen zum Eingang hoch. »Einen Brief versenden.«
»Einen Brief? Wem willst du denn einen Brief schicken?«
Herold drehte sich auf der obersten Stufe zu ihm um.
»Nachdem ich diesen Einfall für den Umbau der Mühle hatte, habe ich mich daran erinnert, dass bei uns vor einiger Zeit ein Müller auf der Durchreise übernachtet hatte. Der hatte mir damals von einer Wassermühle in Hamburg erzählt, die wohl die modernste und beste Wassermühle ist, die er kennt. Den Bauherrn dieser Wassermühle will ich einstellen. Deshalb brauche ich seinen Namen und seine Adresse, und um die zu erfragen, sende ich dem Müller von damals diesen Brief.«
Herold drehte sich um und betrat das Postgebäude.
Jacob unten an der Treppe schüttelte lächelnd den Kopf. Sein Bruder! Wahrscheinlich hatte er schon den ganzen Mühlenumbau komplett durchgeplant.
Die nächste Gelegenheit, Herold zu den Ereignissen in ihrer beider Kindheit zu befragen, ergab sich am folgenden Tag in der Frühstückspause. Herold machte gerade ein grüblerisches Gesicht und schaffte es, dabei glückselig zu lächeln. Als Jacob ihn wieder drängte, von den Geschehnissen zu erzählen, verschwand das Lächeln.
»Na gut«, brummte Herold. »Du gibst sonst ja doch keine Ruhe.«
Er sah zum See, dachte kurz nach und begann dann.
»Ich erinnere mich an unsere Eltern so, wie man sich als dreißigjähriger Mann an Geschehnisse erinnern kann, bei denen man zehn Jahr alt war oder sogar jünger. An Geschehnisse, die 20 Jahre zurückliegen.« Er räusperte sich. »Unsere Mutter habe ich als unnahbar in Erinnerung. Sie war wenig herzlich, eher kühl und abweisend. Ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt jemals in den Arm genommen hat. Als weibliche Bezugsperson hatte ich vielmehr unsere Zugehfrau.«
Jacob traute seinen Ohren nicht.
»Wir hatten eine Zugehfrau? Eine Haushälterin?«
»Ja, aber unterbrich mich nicht. Es fällt mir schwer genug, aus dieser Zeit zu erzählen. Unterbrechungen kann ich nicht gebrauchen. Hinterher kannst du mich fragen, was du willst.«
Herold hatte auf seinem Teller noch einen Bissen Brot. Den steckte er sich jetzt in den Mund. Nachdem er ihn hinuntergeschluckt hatte, fuhr er fort.
»Unser Vater war da ganz anders. Es stimmt, dass er ähnlich war, wie du heute bist, nicht nur äußerlich. Er war immer fröhlich, lustig, herzlich. Er war es, der mich in den Arm nahm und mir zeigte, dass er mich liebte. Wir haben viel zusammen gemacht. Als ich zehn wurde, sagte er mir, dass ich langsam ein Mann werde und bald mitkommen könnte zur Jagd. Aber dazu kam es nicht mehr.«
Herold machte eine kurze Pause, in der er wieder auf den See schaute.
»Dann kam der Tag, an dem er schwermütig wurde. Er hatte irgendwelche Sorgen, aber ich wusste nicht, was für welche. Als ich unsere Zugehfrau danach fragte, sie hieß übrigens Duretta, meinte sie, dass das schon vorbeigehen würde und ich mir keine Sorgen machen sollte. Aber so kam es nicht, es wurde sogar schlimmer. Unser Vater lachte kaum noch und hatte tiefe Ringe unter den Augen, als würde er kaum noch schlafen. Dann kam alles ganz schnell hintereinander. Zuerst starb unsere Mutter bei einem Unfall. Unseren Vater habe ich danach nur noch einmal gesehen, wie er das Haus verlassen hatte. Er war so aufgelöst, dass er mich nicht einmal bemerkt hatte, obwohl er mich umgerannt hätte, wenn ich nicht schnell zur Seite gesprungen wäre. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Meine Fragen nach seinem Verbleib wurden mir nicht beantwortet und kurze Zeit später sagte man mir, dass auch er tot sei.«
Herolds Stimme brach bei den letzten Worten. Jacob sah ihn an und bemerkte, dass er Tränen in den Augen hatte. Auch Jacob wurde ganz beklommen und er musste schlucken, um den Kloß im Hals loszuwerden.
Nach einer Weile fuhr Herold fort, die Stimme immer noch brüchig.
»Wie es zum Tod unserer Eltern kam, hat man mir nie erzählt. Es dauerte auch nicht lange und wir mussten unser Haus verlassen. Wir sind zu unseren Stiefeltern gekommen, dem alten Müllerehepaar Bernhard und Martha. Sie zog dich auf und ich musste Bernhard in der Mühle mithelfen. Den Rest kennst du.«
Beide schwiegen eine Weile. Der eine musste sich erholen, so wie es Jacob schien, und er selber musste das Gehörte verarbeiten. Eigentlich hätte er Herold jetzt gerne in Ruhe gelassen, aber ein paar Dinge musste er unbedingt wissen.
»Du sagst, wir hatten ein Haus?«
»Oh, ja, und was für eines. Ein großes, schönes Haus. Ich hatte ein eigenes Zimmer. Alles war prunkvoll eingerichtet. Und wir hatten Stallungen und Pferde. Soweit ich weiß, hatten wir auch viele Ländereien. Aber das wurde uns alles weggenommen. Ich weiß nicht, warum. Mir als Zehnjährigen hatte man das nicht erzählt und Bernhard wusste es auch nicht. Heute weiß ich nicht mal mehr, wo sich unser Haus befand und ob ich es heute wiedererkennen würde, wenn ich es sähe.« Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Woran ich mich erinnern kann, ist eine weiße Pferdeskulptur, ein aufbäumendes Pferd aus Stein. Darauf hat Vater mich manchmal gesetzt.«
»Und wir hatten eine Zugehfrau?«
»Nicht nur das. Wir hatten noch mehr Personal. Jemanden, der sich um die Stallungen kümmerte, einen Gärtner, ich hatte einen privaten Lehrer. Die habe ich alle später nie wieder gesehen.«
»Das heißt, wir hatten einmal viel Geld?«
»Ja, Geld und Ansehen. Die anderen Menschen begegneten unserem Vater immer mit viel Respekt. ‚Herr von Riekhen dieses‘ und ‚Herr von Riekhen jenes‘ ...«
»Was? Wieso ‚Herr von Riekhen‘?«
»Weil wir früher einen Adelstitel führten. Unser Vater war Freiherr von Riekhen.«
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