»Moment mal. Was für eine Person ist das denn, die da in den alten Geschichten herumwühlt?«
»Ich denke, es ist besser, wenn ich dir auch davon nichts erzähle. Könnte sein, dass deinem alten Herrn das nicht recht wäre. Wenn du etwas darüber wissen willst, fragst du am besten ihn.«
»Pff, eher gefriert die Hölle.«
Marko überlegte, wie viele Jahre er mit seinem Vater schon kein Wort mehr gewechselt hatte. Es mussten mindestens fünf sein.
Gerhard war bereits bei der Wohnzimmertür angekommen.
»Bemühe dich nicht«, sagte er und hob die rechte Hand zum Abschied.
Ganz sicher nicht , dachte Marko und nippte an seinem Whisky. Einen Moment später hörte er, wie die Haustür ins Schloss fiel.
Sein Vater machte sich also Sorgen, wegen eines Schnüfflers. Von dieser Sippschaft .
Seit jeher wurde diese andere Familie, von der Marko nicht wusste, welche es war, von seiner Familie nur »Sippschaft« genannt. Der Alte von der Sippschaft machte dieses oder jenes, hieß es dann. Als Kind fand Marko es faszinierend, dass diese Sippschaft existierte: Es gab eine gegnerische Familie, wie zwei verfeindete Indianerstämme. Er stellte sich damals vor, wie sie gegeneinander in den Krieg zogen. Als er erwachsen wurde, fand er das alles ziemlich albern. Er hielt es für ein Hirngespinst seines überdrehten Vaters.
Zuletzt hieß es, der Alte von der Sippschaft sei gestorben, wie Marko von seinem Bruder erfahren hatte. Aber das interessierte ihn, wie so vieles aus seiner Familie, so gut wie gar nicht. Die einzigen Dinge, die ihn noch mit ihr verbanden, waren sein Bruder und der Nachname von Zölder.
Marko nahm den letzten Schluck aus dem Whiskyglas und erhob sich, um duschen zu gehen.
Sie durchschritten durch das Heiligengeisttor die Stadtmauer, so wie sie es meistens taten, da sie von Norden in die Stadt kamen. Auf diese Weise gelangten sie von der Hausvogtei Oldenburg, also dem zu Oldenburg gehörenden Teil außerhalb der Stadtmauern, in die Stadt Oldenburg. Sie folgten dem Verlauf der Langen Straße und dann dem der Achternstraße. Kurz bevor diese endete, bogen sie in die Ritterstraße ein. In die feine Gegend, wie Herold immer sagte. Ritter gab es hier allerdings schon lange nicht mehr, eher gut betuchte als gut beschmiedete Bürger. Hier sollte der Herr von Elmendorff wohnen, der Mann, den sie um das Geld zum Aufbau und Umbau der Mühle bitten wollten.
Da standen sie nun zwischen den vornehmen Häusern und schauten sich um. Die Fassaden sahen sich alle sehr ähnlich und es waren nicht wenige. Bei welchem Haus sollten sie anfangen?
Ein Mann mit einem Handwagen kam aus der Richtung des Marktes die Ritterstraße herunter. Als er näherkam, erkannte Jacob, dass er noch einige Äpfel und Pflaumen auf dem Wagen hatte. Den Großteil konnte er wohl auf dem Markt verkaufen.
»Weißt du, in welchem Haus Herr von Elmendorff wohnt?«, fragte Jacob ihn.
Der Mann deutete, ohne ein Wort zu sagen, auf das Haus neben dem, vor dem sie standen, und schlurrte mit seinem Wagen weiter Richtung Stautor. Welch ein Glück, dass gleich der erste Passant den Namen kannte.
Herold schritt zu der Eingangstür und schlug den gusseisernen Türklopfer drei Mal gegen die Platte. Nach kurzem Warten öffnete sich die Tür, und eine ältere Frau mit Kittelschürze und hochgesteckten, grauen Haaren stand darin, die Haushälterin, wie Jacob vermutete. Sie musterte Herold und Jacob von oben bis unten, vermittelte dabei aber nicht den Eindruck, als würde sie sie gering schätzen.
»Ja, bitte?«, fragte sie und wandte sich gleich an Herold.
»Guten Tag«, sagte Herold. »Wir würden gerne den Herrn von Elmendorff sprechen.«
Die Haushälterin sah noch mal zu Jacob, dann wieder zu Herold.
»Herr von Elmendorff hält seine Mittagsruhe. Wer seid ihr denn und was wollt ihr von ihm?«
»Entschuldigen Sie bitte mein Versäumnis.« Herold deutete eine leichte Verbeugung an. »Mein Name ist Herold Riekhen und das ist mein Bruder Jacob. Unser Vater war ein alter Bekannter des Herrn von Elmendorff. Wir wussten nicht, dass der Herr noch schläft. Um welche Uhrzeit kommen wir denn gelegen?«
In dem Moment als Herold ihre Namen nannte, bemerkte Jacob eine leichte Veränderung im Gesicht der Haushälterin. Ihm entging zudem nicht, dass Herold die Angabe des Grundes ihres Besuches geschickt umgangen hatte. Es wäre wahrscheinlich auch nicht sonderlich klug gewesen, schon vor dem Einlass davon zu sprechen, dass sie Geld haben wollten.
»Nun, es ist nicht so, dass er schläft. Zu dieser Zeit pflegt der Herr zu lesen.« Sie zögerte, blickte kurz ins Hausinnere und wirkte, als müsste sie eine Entscheidung treffen. »Also gut, ich denke, dass ich bei euch eine Ausnahme machen kann.«
Sie zog die Eingangstür weiter auf und machte eine einladende Geste. Herold folgte dieser und Jacob sofort hinterdrein. Er war ganz gespannt, denn er würde gleich jemanden kennenlernen, der jeden Tag eine längere Zeit las. Außer seinem Freund, dem Pastor, war er so jemandem noch nie begegnet. Zudem war dieser Jemand früher ein Freund seines Vaters. Offenbar kannte sogar die Haushälterin ihre Namen. Wie sonst ließ sich dieser Wandel ihrer Haltung erklären, der eintrat, als Herold sie vorstellte?
Die Frau führte sie durch einige Flure in den hinteren Teil des Hauses. An den Wänden hingen kostbar wirkende, riesige Wandteppiche, auf denen Landkarten aus verschiedenen Gebieten der Welt abgebildet waren. Jacob kannte sich in Geografie nicht gut aus, aber er erkannte eine Darstellung Italiens und eine Spaniens. Vielleicht war Herr von Elmendorff ein Mann, der viel reiste.
Dann durchquerten sie einen Flur, an dessen Seiten edle Kommoden standen und auf ihnen die schönsten Vasen, die Jacob je zu Gesicht bekommen hatte. Oberhalb der Kommoden hingen Ölgemälde an den Wänden, welche sehr unterschiedliche Motive zeigten, von Landschaften über Gebäuden, von denen Jacob einige aus Oldenburg kannte, bis hin zu Porträts.
»Ich führe euch zur Bibliothek«, informierte die Haushälterin sie, ohne den Schritt zu verlangsamen. »Aber bevor ihr mit reinkommen könnt, muss ich den Herrn fragen, ob ihm euer Besuch recht ist.«
Jacobs Bauch kribbelte vor Aufregung. Eine Bibliothek. Das wurde ja immer besser. Erstaunlich, dass es private Personen gab, die sich so etwas einrichteten. Er war ganz gespannt, welche Bücher sich in von Elmendorffs Sammlung befanden.
Als der Flur um eine Ecke verlief, drehte sich die Haushälterin plötzlich um und erhob die Hand mit der Handfläche voran in seine und Herolds Richtung.
»Wartet kurz hier«, sagte sie und verschwand um die Ecke.
Jacob ging zwei Schritte vor und spähte in den nächsten Gang, der sich hinter der Ecke erstreckte. Dort stand die Frau vor einer zweiflügeligen Tür mit Glasfenstern, die durch Vorhänge verdeckt waren, und klopfte an. Jacob hörte eine Stimme aus dem Zimmer. Er konnte zwar nicht verstehen, was sie sagte, aber dass die Person, der sie gehörte, von der Störung nicht erfreut war, konnte er am Tonfall ausmachen. Die Haushälterin trat daraufhin ein und lehnte die Tür hinter sich an.
Von dem Gespräch war dann hauptsächlich die höhere Stimme der Frau zu vernehmen, doch leider war kein einziges Wort zu verstehen. Gerade wollte Jacob näher an die Tür herangehen, er fing sich schon einen missbilligenden Blick von Herold ein, da kam die Haushälterin wieder heraus. Sie zog die Augenbrauen hoch, als hätte sie ihn beim Lauschen erwischt, dabei hatte er ja noch gar nicht damit angefangen.
»Bitte tretet ein, der Herr möchte euch empfangen«, sagte sie und machte die gleiche einladende Geste wie kurz zuvor.
Das erste, was Jacob in der Bibliothek wahrnahm, war der muffige Geruch. Aber der war für ihn nicht unangenehm, denn er wusste, dass er von den Büchern herrührte. Und davon gab es hier Hunderte, wie er feststellte, bevor er den Herrn von Elmendorff auch nur ansah. Herold dagegen war bereits dabei sie vorzustellen.
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