Inzwischen rannen Diether die Tränen über das Gesicht. Er löste sich von ihr und verließ leise ihr Schlafzimmer. Auf dem Korridor lehnte er sich an ihre Tür und wischte sich mit den Fingern die Wangen trocken. Er dachte an frühere Zeiten, in denen sie sich noch geliebt hatten. Sie waren jung gewesen, äußerst jung. Sie waren leidenschaftlich. Ja, damals hatte er sie sehr geliebt. Aber hatte sie ihn auch geliebt? Oder war sie nur jung und schüchtern und ihm deshalb ergeben?
Er wusste es nicht.
In Diethers Schlafzimmer war es einsam. Und langweilig. Er ging deshalb bald zu Bett, doch er konnte nicht einschlafen. Immer wieder musste er darüber nachdenken, was denn in seiner Ehe fehlgelaufen war. Er fragte sich, was er falsch gemacht haben könnte, dass es so gekommen war, und wälzte sich von einer Seite auf die andere.
Irgendwann hatte er davon genug: Er stand wieder auf. Vielleicht ließ sich in der Küche noch etwas von dem Braten ergattern. Danach war es mit dem Schlafen bestimmt einfacher. Mit bloßen Füßen stieg er die Treppe hinunter. Er versuchte, möglichst wenig Geräusche zu machen, da der Rest der Hausbewohner vermutlich schlief. Auf dem Weg zur Küche ging er an den Räumen der Bediensteten vorbei. Die Türen waren alle verschlossen, und es war kein Lichtschein mehr in den Spalten zu sehen. Doch dann kam er bei dem letzten Raum vor der Küche an, Durettas Zimmer. Diese Tür stand ein Stück offen und drinnen brannte Licht. Diether trat heran und öffnete die Tür weiter. Auf einem Schemel sah er Durettas Arbeitskleidung liegen, aber sie selbst war nicht anwesend.
Diether setzte seinen Weg zur Küche fort und hörte bald scheppernde und klappernde Geräusche. Nanu, war sie noch am Arbeiten? Und tatsächlich: Er betrat leise die Küche und sah Duretta, wie sie Töpfe und andere Kochgegenstände wegräumte. Ihre Haare hatte sie offen. Sie war barfuß, wie er, und trug nur ein leichtes Nachthemd. Das war nicht so hübsch und fein wie das seiner Frau, aber der ansehnliche Körper, der darin steckte, machte diesen Nachteil mehr als wett. Durch den dünnen Stoff konnte er sehen, wie die Brüste bei ihren Bewegungen hin und her schaukelten.
»Du räumst noch auf?«
Duretta hatte ihn nicht reinkommen gehört, und als er sie nun ansprach, erschrak sie dermaßen, dass sie am ganzen Körper zusammenzuckte. Sie fasste sich ans Herz, wodurch die Rundung unter dem Nachthemd noch entzückender aussah. Ihr Haar war durch die plötzliche Bewegung so stark durcheinandergeraten, dass es ihr halb ins Gesicht hing. Was für ein hinreißend süßer Anblick das war! Diether musste schmunzeln.
»Haben Sie mich erschreckt«, keuchte sie. Der Schreck hatte ihr den Atem genommen. »Ja, mir fiel noch ein, dass ich vergessen habe, das hier wegzuräumen. Bitte entschuldigen Sie, aber ich dachte, dass alle schon schlafen würden.«
Diether ging ein paar Schritte auf sie zu. Ihre Hände presste sie immer noch unter ihren Busen, und er musste sich bemühen, nicht dorthin zu starren.
»Ja, das wollte ich auch, aber ich konnte nicht. Und dann fiel mir der Braten ein ...«
»Soll ich Ihnen noch etwas davon holen?«
Sie nahm ihre Arme nach vorne und deutete auf die Speisekammer. Wie schade, dass das Nachthemd nun nicht mehr über ihrer Brust gestrafft war.
»Nein, nein, das ist nicht nötig.« Er ging weiter auf sie zu. »Ich habe jetzt doch keinen Hunger mehr.«
Je näher er ihr kam, desto größer wurde seine Erregung. Als er nun direkt vor ihr stand, konnte er sich nicht länger beherrschen. Doch immerhin noch so weit, dass er nur ihre Wange streichelte.
»Aber, Herr«, flüsterte sie und lächelte dennoch.
Er fasste sie ans Kinn und küsste sie auf den Mund. Sie erwiderte den Kuss. Ihre vollen Lippen fühlten sich fest und weich zugleich an. Sein ganzer Körper war inzwischen am Kribbeln und insbesondere in der Körpermitte war seine Erregung nicht mehr zu verheimlichen. Doch gerade jetzt musste er an Alheyt denken. Er löste seinen Mund von Durettas und drehte den Kopf zum Kücheneingang.
»Keine Sorge«, sagte Duretta, seine Bewegung missdeutend. »Die schlafen alle tief und fest.«
Sie zog sich das Nachthemd über den Kopf und ließ es zu Boden gleiten. Ihre Arme schlang sie um seinen Nacken, und sie setzte sich auf seine Hüfte, indem sie die Beine hinter seinem Rücken verschränkte. Er konnte nicht anders, als sie mit den Händen unter ihrem nackten Gesäß zu halten. So küssten sie sich erneut, bis sie ihm zu schwer wurde und er sie auf der Tischkante absetzte. Nun hatte sie die Arme frei, mit denen sie begann, an seinem Nachtgewand herumzunesteln, bis er davon befreit war. Anschließend umschloss sie ihn sofort wieder mit einer Kraft und Hingabe, als hätte sie diesen Augenblick schon lange erwartet und als wollte sie ihn, Diether, nun nicht wieder hergeben.
In den darauf folgenden zwei Stunden, in denen sie sich drei Mal liebten, dachte Diether nicht ein einziges Mal an Alheyt. Später sollten ihn deswegen große Gewissensbisse plagen.
Wie, zum Teufel, sollte sie so ihren neuen Auftrag der Nordwest-Zeitung rechtzeitig fertig bekommen? Dieser Krach machte sie wahnsinnig. Den ganzen Tag ging das schon so. Am Vormittag hatten die Handwerker unzählige Löcher in die Wände gebohrt. Das damit verbundene Dröhnen ging ihr durch Mark und Bein. Und im Moment stemmten sie mit Bohrhammern die Wände für die Wasser-, Strom- und Abflussleitungen der neuen Küche auf. Gegen diesen Lärm war das Löcherbohren ein Flüstern gewesen. Zu allem Überfluss war Timo nun auch noch quengelig. In seinem Mittagsstündchen hatte er wahrscheinlich keine Minute geschlafen, was ihm jetzt natürlich fehlte. Ständig hing er ihr am Rockzipfel und wollte dieses oder jenes. Inzwischen war sie mit ihren Nerven am Ende. Sämtliche Konzentrationsfähigkeit war dahin.
Sie klappte ihr Notebook zu.
»Komm Timo.« Ihr Sohn spielte auf dem Fußboden ihres Arbeitszimmers. Die Fahrgeräusche der Spielzeugautos, die er mit seiner Stimme imitierte, fielen bei dem Lärm in ihrem Haus kaum auf. »Wir gehen an die frische Luft.«
Sie machten eine halbe Runde um die Dobbenwiese und quer darüber hinweg zurück. Die Luft war herrlich. Es war noch ein schöner Sommertag. Der kleine Spaziergang hatte sie spürbar entspannt.
Im Haus war es bei ihrer Rückkehr tatsächlich ruhiger als vorher. Der Bohrhammer hatte Pause. Stattdessen war jemand nur mit einem normalen Hammer zu Gange, was verglichen mit der vorherigen Geräuschkulisse wie ein leises Klacken war.
Sie begaben sich wieder ins Arbeitszimmer, wo Timo sich erneut seinen Autos widmete. Edithas Blick fiel auf das Schreiben vom Standesamt. An Telefonieren war bei der Geräuschkulisse bisher heute nicht zu denken gewesen, aber jetzt konnte sie den Moment nutzen.
Im Internet hatte sie auf der Homepage der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg ein paar Durchwahl-Nummern des Archivs herausgefunden. Davon rief sie aufs Geratewohl eine an. Es meldete sich eine freundliche Dame, mit der sie einen Termin vereinbarte, an dem sie Einsicht in die Mikrofiches nehmen konnte. Wie sie im Internet gelesen hatte, waren in diesen Mikrofiches die Kirchenbücher gespeichert, bis ins Jahr 1640 zurückgehend.
Kaum hatte sie das Gespräch beendet, stand plötzlich einer der Handwerker in der Tür des Arbeitszimmers und klopfte an den Türrahmen. Er sah aus wie ein Bäcker kurz vor Feierabend, überall mit weißem Staub bedeckt.
»Entschuldigen Sie, Frau Riekmüller«, sagte er. »Es gibt da ein Problem. Das sollten Sie sich vielleicht mal ansehen.«
Er führte sie nach oben in die werdende Küche. Editha erschrak: Dort herrschte das reinste Chaos. Überall lag Schutt, in der Wand klaffte ein riesiges Loch.
»Oh, mein Gott«, konnte sie nur sagen, bevor sie sich die Hand vor den Mund hielt.
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