„An welchem Fall arbeitet Ursula momentan?“
„Ich habe alle Fälle der letzten Jahre zusammengepackt und mitgebracht. Der Chef hat dafür gesorgt, dass niemand davon erfährt.“ Anna Ravelli zeigte auf einen Stapel Unterlagen, die auf der Anrichte lagen. Leo kamen diese bekannt vor. Die Farben und die Art der Einbände hatte er vor Jahren selbst eingeführt.
„Gut, die Unterlagen nehmen wir uns gleich vor. Wann habt ihr Ursula zuletzt gesehen?“
„Wir haben gestern einen Mordfall abgeschlossen, der wie im Lehrbuch ablief. Ein Mord aus Eifersucht, der Täter war geständig. Nach dem gestrigen Verhör haben wir den Schriftkram erledigt, gegen dreiundzwanzig Uhr war Feierabend. Ursula wollte noch auf eine Party, dort blieb sie bis kurz nach zwei. Sie hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass man sie verhaftet hat. Das Gespräch brach abrupt ab. Sie bat mich, den Chef zu informieren, was ich natürlich sofort gemacht habe.“
„Ich habe meine Kontakte spielen lassen und habe nach Stunden lediglich die Information bekommen, dass sie nach Stadelheim gebracht wurde und in U-Haft sitzt. Den Rest wissen Sie bereits.“
„Was schlagt ihr vor?“
„Die Party fand in der Goethestraße statt. Ursula ist direkt vom Polizeipräsidium aus dort hingefahren und blieb bis kurz nach zwei, das bestätigen die Handydaten und die Gespräche mit einigen Partygästen. Nach zwei Uhr war Ursulas Handy hier, hier und hier eingeloggt, woraus wir schließen können, dass sie direkt nach Hause wollte.“ Stefan Feldmann zeigte auf der Karte die markanten Punkte. „Sie fuhr auf der Neuen Straße. Zwischen Gänslände und Gideon-Bacher-Straße wurde das letzte Signal aufgenommen, danach nicht mehr. Der Anruf an Anna kam von hier. Vermutlich wurde ihr Handy dann ausgeschaltet.“
„Du meinst, dort muss sie verhaftet worden sein?“
„Keine Ahnung. Ich kann dir nur sagen, wo ihr Handy zuletzt eingeloggt war.“
„Sonst noch etwas? Wenn nicht, fahre ich jetzt in die JVA Stadelheim und spreche mit Ursula.“
„Denken Sie, dass das so einfach geht? Die lassen niemanden zu ihr, vor allem keine Polizisten. Wenn selbst die Familie und ein Anwalt nicht zugelassen werden, dann stehen Ihre Chancen, mit ihr zu sprechen, denkbar schlecht.“ Zeitler schüttelte enttäuscht den Kopf. Hatte der Mann nicht zugehört?
„Warum sollten sie mich nicht zu ihr lassen? Ich arbeite nicht mehr bei der Kripo Ulm.“
„Trotzdem bist du ein Polizist, dein Name ist doch bekannt.“ Auch Christine war über die naive Art ihres Freundes enttäuscht.
„Sie hätten sich früher nicht so viele Eskapaden leisten dürfen, der vermeintliche Ruhm ist jetzt die Quittung dafür“, brummte Zeitler. „Wir haben Sie kontaktiert, damit Sie so diskret wie möglich die Ermittlungen aufnehmen. Es steht außer Frage, dass wir Sie darin tatkräftig unterstützen. Dabei müssen wir selbstverständlich sehr vorsichtig vorgehen. Und damit meine ich vor allem Sie, Schwartz. Sie haben mich früher den letzten Nerv gekostet und ich hoffe, dass Ihnen die bayerischen Kollegen wenigstens etwas die Flügel stutzen konnten. Scherz beiseite. Wenn von Seiten der Justiz so gemauert wird, ist die Sache mit der Kollegin Kußmaul sehr heikel. Ich finde Ihren Vorschlag, mit ihr zu sprechen zu wollen, unter den gegebenen Umständen äußerst dämlich. Dadurch erfährt man doch sofort, dass Sie in die Sache involviert sind und geraten auch auf die Liste derer, die für den Schlamassel verantwortlich sind. Ich vermute, dass an der Sache sehr viel mehr dran ist, wir müssen vorsichtig sein.“
„Gut, dann kein Gespräch mit Ursula. Ich verspreche, dass ich es nicht versuchen werde. Warten wir ab, was der Anwalt erreicht, den ich engagiert habe. Doktor Grössert ist ein harter Hund. Außerdem hat er sehr gute Beziehungen. Ich bin mir sicher, dass er etwas herausfinden wird.“
„Ich verlasse mich auf Sie. Wenn Sie sich nicht daran halten, garantiere ich für nichts. Wir dürfen Frau Kußmaul nicht gefährden. Ich schlage vor, dass wir private Handynummern austauschen und nur darüber kommunizieren. Verfügen alle über ein solches?“
„Ich habe nur ein Diensthandy“, sagte Stefan, der kein Freund der ständigen Erreichbarkeit war. Zeitler griff in die Tasche und übergab ihm ein Smartphone und die dazugehörige Nummer. Alle tauschten die Nummern aus.
„Nur Gespräche und Informationen ausschließlich über diese Nummern. Treffen und Gespräche den Fall betreffend nur unter strengster Geheimhaltung. Außerdem versteht es sich von selbst, dass außer uns niemand eingeweiht wird. Die Sache mit dem Anwalt lasse ich gerade noch durchgehen“, Zeitler sah Leo strafend an. „Wir müssen nach außen den Eindruck erwecken, dass wir uns alle an die Anweisungen halten und uns nicht um die Kollegin Kußmaul kümmern.“
„Ist diese ganze Geheimhaltung nicht völlig übertrieben?“, sagte Leo, woraufhin ihn alle anstarrten.
„Mag sein, dass das so ist. Solange wir nicht wissen, wo Ursula ist und was ihr vorgeworfen wird, werden wir alles tun, was von uns verlangt wird. Hast du verstanden?“ Christine sprach ruhig und sah Leo dabei an.
„Alles klar, ich habe verstanden. Ich mache mich sofort an die Arbeit. Eine Frage habe ich noch: Von wem bekamen Sie Ihre Informationen, Herr Zeitler?“
„Direkt aus der Staatsanwaltschaft vom Stellvertreter Beilingers. Der Name ist Natascha Enzinger.“
„Kennen Sie die Frau?“
„Nicht persönlich. Wenn ich mit der Staatsanwaltschaft zu tun habe, wende ich mich direkt an Doktor Beilinger. Ich werde mich weiter um einen Termin bei Frau Enzinger bemühen. Wenn ich der Frau auf die Nerven gehe, macht sie vielleicht Druck.“
Ursulas Entführer waren nach einer schier endlos langen Fahrt offenbar an ihrem Ziel angekommen, denn der Wagen stoppte und sie hörte zwei Türen zuknallen. Dann wurde eine Tür geöffnet. Die frische Luft strömte bis zu ihr. Ursulas Glieder schmerzten und sie war am Ende. Endlich wurde ihr die Augenbinde abgenommen, als einer der Männer sie unsanft aus dem Wagen zerrte. Ihre Augen reagierten empfindlich auf den Sonnenaufgang. Sie musste sich jetzt zusammenreißen und sich jedes noch so kleine Detail merken. Die Männer trugen abermals Masken, unterschieden sich aber in Statur und Körperhaltung. Der eine war ziemlich groß und hielt sich aufrecht, der andere war klein und leger, auch die Kleidung. Den Lieferwagen sah sie nur aus dem Augenwinkel. Er war dunkel, ein neueres Modell. Mehr konnte sie nicht erkennen. Der kleinere Mann packte sie am Arm und zog sie mit sich. Sie wurde in ein Haus gebracht, das sie noch niemals vorher gesehen hatte. Es ähnelte einem Bauernhaus, zumindest war vor dem Haus eine Art Trog und ein verwilderter Gemüsegarten, der mit einem defekten Holzzaun umgeben war. Sie befand sich auf dem Land, um sie herum waren nur Felder und Wiesen. Die Gegend sagte ihr nichts. Das waren zu wenige Informationen. Sie drehte den Kopf und wollte das Nummernschild des Wagens lesen, wurde aber von dem zweiten Mann daran gehindert.
„Vergiss es“, zischte der, gab ihr einen heftigen Stoß und versperrte ihr die Sicht.
„Musst du so grob sein?“, murmelte der andere, der das Verhalten völlig überzogen fand. Ursula verlor das Gleichgewicht und er konnte sie gerade noch festhalten, sonst wäre sie vorn über gefallen.
„Halts Maul, das geht dich nichts an“, erwiderte der andere.
Das Zimmer, in das Ursula gebracht wurde, war schlicht und einfach eingerichtet. Sie fuhr mit dem Finger über den Tisch, den eine dicke Staubschicht bedeckte. Sie sah den größeren der beiden Männer an, der nicht darauf reagierte. Die Tür wurde geschlossen. Noch bevor sie sich umsehen konnte, ging die Tür wieder auf. Der Größere, vermutlich der Anführer, warf einen Schlafsack auf das Bett und zwei Handtücher auf den Tisch. Dann ging er wieder.
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