„Ihre Ausweispapiere, und zwar von allen, wenn ich bitten darf“, wiederholte Ursula laut und versuchte, selbstbewusst aufzutreten.
Aber die Männer lachten nur. Nun kam der Sportwagen-Fuzzi ebenfalls hinzu. Er sah sie nur an, was ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Warum hatte sie überhaupt angehalten? Ihr Chef hatte verboten, irgendwelche Aktionen allein durchzuziehen, zumal sie nicht einmal bewaffnet war. Ihre Waffe lag verschlossen in ihrem Schreibtisch, schließlich konnte sie damit nicht auf der Party auftauchen.
Dann hielt ein Wagen neben ihr. Gott sei Dank – die Polizei! Ursula erkannte die Zivilfahrzeuge der Polizei sofort. Erleichtert versuchte sie, den Kollegen die Situation zu erklären, aber die interessierte das nicht. Sie wurde gepackt und unsanft in den Fond des Wagens gesetzt. Was sollte das? Während beide Kollegen mit dem Sportwagen-Typen sprachen, kramte sie hektisch in ihrer Tasche und suchte nach ihrem Handy. Warum war immer so viel Zeug in ihrer Tasche? Endlich hatte sie das Handy gefunden und wählte die Nummer ihrer Kollegin. Anna ging nach dem ersten Klingeln ran. Ursula konnte ihr gerade noch mitteilen, dass sie offensichtlich verhaftet wurde und dass sie den Chef informieren soll. Dann wurde die Wagentür aufgerissen und einer der Polizisten, der jetzt, wie sein Kollege auch, eine Maske trug, nahm ihr das Handy und die Tasche ab. Als wäre das nicht schon genug, bekam sie auch noch Handschellen und eine Augenbinde verpasst. Das geschah alles so schnell, dass Ursula kaum reagieren konnte. Und dann ging es auch schon los. Der Fahrer drückte aufs Gas.
„Könnt ihr mir erklären, was das soll? Ich verlange auf der Stelle mein Handy zurück. Ich arbeite bei der Ulmer Kriminalpolizei und kann euch so richtig Ärger machen. Glaubt mir, ihr werdet das noch bitter bereuen! Ihr stoppt sofort den Wagen und lasst mich raus!“ Ursula redete und redete, aber beide Männer sagten kein Wort. Sie versuchte es mit Provokationen und Beleidigungen, aber auch das funktionierte nicht. „Könnt ihr mich wenigstens von den Handschellen befreien? Die Dinger schmerzen, ich kann mich kaum bewegen.“ Das entsprach der Tatsache, aber auch hierauf reagierten die Männer nicht. Ursula gab nicht auf. Sie redete unvermittelt weiter, was den Männern immer mehr auf die Nerven ging. Wie lange würde sie brauchen, bis einer der beiden austickte? Und warum trugen die beiden Masken, obwohl sie sie vorhin ohne gesehen hatte? Sie zwang sich dazu, sich jedes Detail der beiden einzuprägen, um sie später identifizieren zu können. Die würden ihr blaues Wunder erleben, wenn sie wieder frei war und sich alles auflöste. Hatten die Männer nicht verstanden, dass sie von der Polizei war?
Nach über einer Stunde Fahrt stoppte der Wagen. Einer der Männer zog sie vom Sitz und schob sie unsanft auf einen harten Untergrund. Dann hörte sie, wie Türen geschlossen wurden. Das war das Heck eines Lieferwagens, ganz sicher. Das Geräusch des Motors, der gestartet wurde, passte genau dazu. Was sollte der Mist? Wo waren sie? Sie konnte wegen der Augenbinde nichts sehen, konnte aber deutlichen Verkehrslärm hören. Sie mussten sich in der Nähe einer vielbefahrenen Straße aufhalten. Wo genau, konnte sie nicht erahnen. Der Lieferwagen fuhr los und sie saß einsam auf dem nackten Boden eines Lieferwagens. Anfangs wurde sie unsanft hin und her geschleudert, dann ging es zum Glück nur noch geradeaus. Ursula bekam es mit der Angst zu tun. Der Wagen auf der Neuen Straße war eindeutig ein Zivilfahrzeug der Polizei – oder irrte sie sich? Waren die beiden Männer keine Polizisten? Waren das Mädchenhändler und sie war in deren Fänge geraten? Warum hatte sie angehalten und nicht Verstärkung gerufen, wie es Vorschrift gewesen wäre? Sie schrie und weinte, schließlich weinte sie nur noch. Die Fahrt ging unvermittelt weiter.
Der Wagen verminderte seine Geschwindigkeit und bog ab, wodurch Ursula erneut unsanft gegen die Wand geschleudert wurde. Wie lange waren sie unterwegs gewesen? Eine halbe Stunde? Zwei Stunden? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Dann hielt der Wagen an und nichts geschah. Was war los? Ursula hörte, wie ein Mann telefonierte, und rückte näher, um irgendein Wort aufschnappen zu können. War das einer ihrer Entführer?
„Wir sind kurz vor unserem Ziel. Wir sind…“
„Ich möchte das überhaupt nicht wissen.“
„Wie du willst.“
„Hat euch jemand gesehen? Gab es Komplikationen?“
„Nein. Alles lief nach Plan.“
„Passt gut auf die Frau auf, damit sie keinen Unfug anstellen kann.“
„Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Die Frau ist eine Kollegin. Wir können sie nicht einfach festhalten.“
„Das weiß ich auch! Trotzdem hat sie nicht nur die Fahrzeuge, sondern auch die Männer gesehen. Polizisten haben ein geschultes Auge für Details. Wir müssen verhindern, dass sie plaudert. Und das geht nur, wenn sie aus dem Weg ist.“
„Kannst du mir nicht sagen, worum es geht?“
„Nein, du musst mir vertrauen. Du vertraust mir doch, oder?“
„Selbstverständlich. Du weißt, was du tust.“
„Ich danke dir. In zwei Tagen ist alles über die Bühne und die Gefahr ist vorbei. Dann setzt sie irgendwo in der Pampa aus. Habt ihr darauf geachtet, dass sie euch nicht erkannt hat?“
„Sicher, wir sind keine Anfänger. Trotzdem habe ich Bauchschmerzen bei der Sache. Sie arbeitet bei der Kripo und wird vermisst werden.“
„Lass das mal meine Sorge sein. Ich streue das Gerücht, dass sie in Stadelheim einsitzt. Das wird diejenigen beschäftigen, die nach ihr suchen. Außerdem werde ich die Ulmer Kripo an die kurze Leine legen.“
„Gut. In zwei Tagen melde ich mich wieder.“ Der kurze Moment, in denen die Kollegin ihre Gesichter gesehen hatte, war nicht wichtig. Um eine Beschreibung abgeben zu können, war es zu dunkel gewesen, außerdem ging alles sehr schnell. Und dass die Kollegin telefoniert hat, verschwieg er auch. Was hatte die Frau in der kurzen Zeit schon groß weitergeben können?
Leo Schwartz wurde mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Das ständige Läuten seines Handys versuchte er zu ignorieren, schließlich hatte er Urlaub und den hatte er sich redlich verdient. Seit dem letzten Fall war endlich Ruhe eingekehrt, wodurch er und seine Kollegen nicht nur aufgelaufene Überstunden, sondern auch den Resturlaub der letzten Jahre abbauen konnten. Leo hatte sich zuerst gemeldet und kam den anderen zuvor. Das war zwar nicht ganz fair, aber er war fix und fertig. Er freute sich auf die freien Tage, die er nur mit Schlafen, Lesen und ausgedehnten Spaziergängen verbringen wollte. Er zog die Bettdecke über den Kopf. Dieses verdammte Handy läutete fast ununterbrochen. Wütend sah er auf die Uhr: drei Uhr zweiundvierzig. Was sollte der Mist? Alle wussten, dass er Urlaub hatte. Dann stand er auf und suchte nach seinem Handy, das in der Küche neben der Spüle lag.
„Was?“, schrie er wütend.
„Komm sofort her, wir brauchen dich hier.“
„Christine? Was ist passiert?“ Leo hatte die Stimme sofort erkannt.
„Logisch bin ich es, hast du meine Nummer nicht erkannt?“
Sollte Leo zugeben, dass er nun auch eine Brille brauchte, da die Buchstaben und Zahlen immer kleiner wurden und seine Arme nicht mehr ausreichten, um alles entziffern zu können? Nein, das schien nicht der richtige Zeitpunkt zu sein. Es musste etwas Schlimmes passiert sein, sonst würde ihn seine Freundin und frühere Ulmer Kollegin nicht um diese Uhrzeit anrufen. Die dreiundsechzigjährige Pathologin war im Ruhestand und die beiden sahen sich sporadisch, nachdem sie seit seiner Versetzung ins bayerische Mühldorf am Inn rund zweihundertfünfzig Kilometer trennten.
„Wann bist du hier?“ Für Christine war es keine Frage, ob Leo nach Ulm kommen würde, das stand für sie fest.
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