»Wie lange werden sie brauchen?«
»Ich schätze zehn Tage. Wenn alles gut läuft. Wenn nicht, dann vielleicht vierzehn.«
Hanah kaute auf ihrer Unterlippe, während die Sachlage weiter erklärt wurde. Sie verstand noch nicht ganz, wozu sie jetzt plötzlich diese Daten brauchten. Es erschien ihr auch sehr gefährlich, mit zehn Männern los zu ziehen und das nächste Dorf zu suchen. Wie hoch war wohl die Wahrscheinlichkeit, dass ein paar von ihnen nicht mehr zurückkehrten? Nicht sehr hoch, wenn sie zu zehnt losgeschickt wurden. Aber wie würden die anderen Dörfer auf sie reagieren, wo sie doch elf Jahre lang nicht in Erscheinung getreten waren? Und warum bot sich Bileam nicht als Leiter der Gruppe an, wo er doch so gut Bescheid zu wissen schien?
Sie hörte nur mit halbem Ohr zu und als Less neben ihr eine weitere Frage stellte, zuckte sie beinahe zusammen.
»Was ist denn das Mindestalter für so eine Mission?«
»Dreiundzwanzig. Du darfst dich also dafür melden, wenn du das willst.«
Less Augen blitzten.
»Was grinst du denn so?«, fragte Hanah ihn misstrauisch. »Du hast doch nicht wirklich vor, dort mitzugehen?«
Less Augen blitzten. »Doch, natürlich. Denkst du, ich lasse mir so eine Chance entgehen?«
Less wusste, dass diese Mission eine Chance für ihn bedeutete. Einmal wenigstens wollte er diese Gemeinschaft verlassen und erleben wie es sich anfühlte, längere Zeit außerhalb ihrer engen Grenzen zu verbringen. Selbst wenn es nur für wenige Tage war. Das so etwas in den nächsten Jahren noch einmal geschah, war mehr als unwahrscheinlich; also ergriff er die Gelegenheit beim Schopf.
Nicht jeder dachte wie er. Die meisten Leute zogen das behütete, geregelte Leben hier vor. Deshalb fanden sich auch nur wenige, kaum mehr als dreißig, die sich für eine solche Unternehmung bereit erklärten.
Etwa achtzehn fielen aus, da sie Familie mit kleinen Kindern hatten. Einen weiteren Jeshua-Fall wollte niemand riskieren. Alle Übrigen wurden per Los gezogen. Less hatte Glück. Es wurde ein Zettel mit seinem Namen gezogen. Insgesamt zog Bileam vier Namen aus dem Topf. Alle, die sich gemeldet hatten, protestierten, denn Bileam hatte von sieben oder zehn Leuten gesprochen. Doch anscheinend waren sich die Ältesten einig, dass damit zu viel Aufsehen erregt wurde. Man blieb also bei vier. Bileam teilte ihnen später noch mit, dass Ciernick Simonedes sie begleiten würde. Angeblich verfügte dieser über die meiste Erfahrung. Less konnte das nicht nachvollziehen und es dämpfte seine Vorfreude ein wenig. Cierick wollte er ungern auf einer Expedition dabei haben
Sie alle wurden zunächst von ihren täglichen Pflichten befreit, um sich auf die kommenden Tage vorzubereiten. Man ging mit ihnen die Grundlagen für das Überleben unter freiem Himmel durch, die sie eigentlich schon alle beherrschten. Dann gingen sie zu Verhandlungstechniken über und übten sich in Überredungskunst. Denn selbst Bileam wusste nicht, was sie erwartete. Das hielt Less jedoch nicht davon ab, sich überschwänglich zu freuen.
Hanah verbarg ihre Sorge über Less‘ Begeisterung kaum. Immer wieder warnte sie ihn vor seiner Leichtsinnigkeit. Erst nach ein paar Tagen begriff er, dass sie Angst hatte, ihn zu verlieren. Seit dem Tod ihres Vaters war er ihr Ansprechpartner gewesen, der männliche Part in ihrem Leben. Obwohl er schon seit ein paar Jahren mehr für sie sein wollte.
Ihre Sorge rührte ihn, machte ihm aber auch bewusst, dass er sich im Zweifelsfall gegen sie und für das Abenteuer entscheiden würde. Das wiederum machte ihn traurig. Deswegen mied er das Thema, wenn er mit Hanah unterwegs war.
Sie planten die Reise strategisch genau, so dass sie in den zehn oder vierzehn Tagen möglichst mildes Wetter haben würden. Natürlich konnte hier draußen alles passieren, bis hin zu den schlimmsten Wintereinbrüchen, aber Less hoffte das Beste.
Am Morgen, kurz bevor sie sich auf den Weg machen wollten, saß er mit Hanahvor dem Kamin. Der gepackte Rucksack stand neben der Tür. Im oberen Stockwerk schlief Murray, das brennende Holz knisterte vor sich hin und die Wärme des Feuers glitt sanft über ihre Gesichter.
Hanah saß mit angezogenen Beinen auf einem Sessel und ihr blick ruhte in den tanzenden Flammen.
Genau so wollte er seinen Lebensabend verbringen. Mit ihr an seiner Seite. Einige Jahre würde es noch dauern, bis er sie heiraten konnte, schließlich war sie erst sechzehn. Aber Less würde warten. Hanah war seine engste Freundin, sie war das Warten wert.
»Wie lange werdet ihr wirklich brauchen?«, fragte sie, ohne ihr Gesicht vom Feuer abzuwenden.
»Ich weiß es nicht genau, aber sicher mehr als fünf Tage. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob die auf unseren Karten eingezeichneten Siedlungen noch existieren.«
»Denkst du, sie werden euch feindlich gesinnt sein?«
Less schüttelte den Kopf. »Wir wollen ihnen nichts Böses, wir haben sogar ein paar Technologien, die wir ihnen anbieten können.«
»Und wenn sie Geld wollen?«
»Damit können wir leider nicht dienen. Es muss mit einem Tauschhandel funktionieren.«
»Und wenn ihr einfach welches druckt?«
»Das würden wir vielleicht, wenn wir ein Muster hätten. Aber mittlerweile hat sich die Währung sicher geändert, durch Inflation, Deflation oder sonst was. Dreizehn Jahre ist eine lange Zeit.«
»Ja, ich weiß«, Hanah blickte noch immer nachdenklich ins Feuer.
Less sah auf die Uhr, ihnen blieb noch eine halbe Stunde. »Mich beunruhigt es nur, dass Ciernick mit uns geht.«
»Warum das?« Ihre braunen Rehaugen blickten ihn erstaunt an.
»Ich halte ihn nicht für besonders vertrauenserweckend. Erinnere dich doch daran, was damals passiert ist, als dein Vater… Ciernick sagte, er hätte nach dem Sturm keine Spur mehr von ihm gefunden.«
»Glaubst du ihm etwa nicht?«
Less zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat er gar nicht richtig gesucht… «
Nun funkelten Hanahs Augen, sie wurde wütend. »Ciernick ist ein guter Mensch, Less. Jetzt ist für dich die perfekte Zeit gekommen, um ihm Vertrauen zu schenken. Denkst du etwa, er hätte meinen Vater einfach irgendwo liegen lassen? Sie waren Freunde!«
Abwehrend hob Less die Hände. »Manchmal kann ich leider nicht so viel Vertrauen zu den Menschen haben wie du. Aber es tut mir Leid. Ich werde versuchen, ihn zu respektieren.«
Hanah schüttelte den Kopf. »Die Leute hier haben dir und mir immer nur Gutes gewünscht. Sie waren entgegenkommend und freundlich. Ich kann wirklich nicht verstehen, wie du auf den Gedanken kommst, Ciernick würde uns alle anlügen. Besonders bei so einer Sache.«
»Es tut mir Leid. Du hast Recht«, Less senkte den Kopf. »Wahr-scheinlich ist das nur so ein Gefühl, weil ich aufgeregt bin. Heute will ich mich nicht mit dir streiten. Ich werde Murray wecken und mich verabschieden.« Sie nickte ihm kurz zu und lächelte. So war Hanah. Sie konnte nicht länger als drei Sekunden böse sein.
Mit schnellen Schritten lief er die Treppe hinauf und klopfte an die Schlafzimmertür seines Ziehvaters. Murray bat ihn herein. Er saß bereits angezogen in dicker Cordhose, kariertem Hemd und braunem Jackett in seinem grünen Ohrensessel, im Mund eine große Pfeife. Fehlt nur noch der Whiskey, dachte Less.
»Wir brechen gleich auf«, erklärte Less sein stürmisches Eintreten und setzte sich ihm gegenüber auf die Bettkannte. »Seit wann bist du auf?«
»Schon bisschen länger«, entgegnete Murray mit seinem starken schottischen Akzent, »wollt‘ dich und das Mädl nicht störn‘.«
»Sie macht sich Sorgen um mich.«
»Hmhm. Im Gegensatz zu dir scheint sie die Tück‘n der Natur nich‘ zu unterschätzen.«
»Ich unterschätze sie nicht, ich kann meine Stärken nur ebenfalls gut einschätzen.«
MacGrory zog seine buschige Augenbraue nach oben.
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