Siv Stippekohl
Grenzenlos im Norden.
Menschen und der Mauerfall
Ein Lesebuch herausgegeben
vom Norddeutschen Rundfunk
Mit einem Vorwort von Erhart Neubert
Mitarbeit:
Björn Ahrend, Thomas Balzer, Inga Bork,
Lena Gürtler, Ulrich-Lars Houschka, André Keil,
Lenore Lötsch, Thomas Naedler,
Viktoria Urmersbach und Matthias Vogler
Saga
Grenzenlos im Norden! Zum Geleit
»Einfach Wahnsinn!«, »Unbeschreiblich!«, »Unglaublich!«
Vor 20 Jahren fehlten vielen Menschen zunächst die Worte. 20 Jahre später gibt es unzählige Geschichten zu erzählen, von dem Tag, von dem an das geteilte Deutschland plötzlich eins war.
»Wo warst du am 9. November 1989?« – »Das werde ich nie vergessen ... Wir saßen vor dem Fernseher ..., ich traf eine Freundin ..., ich kam gerade von der Arbeit ...« Die Antworten auf die Frage kommen stets wie aus der Pistole geschossen.
Es gibt wohl nur wenige Tage in der Geschichte, die solch eindrückliche persönliche Erinnerungsspuren bei jedem Zeitgenossen hinterlassen haben wie jener Tag, an dem die Grenze zwischen Ost und West nicht mehr unüberwindlich war. Kaum jemand hat vergessen, wo er war, wie er davon erfuhr, welche Gefühle die Nachricht ausgelöst hat.
Der NDR war lange Zeit der einzige Sender im ARD-Verbund, der alte und ein neues Bundesland umfasst. Bei uns arbeiten Menschen, die aus eigenem Erleben die Geschichte beider deutscher Staaten kennen. Eine große Bereicherung – in der journalistischen Arbeit, aber auch im alltäglichen Umgang miteinander.
Die Geschichten in diesem Buch sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sie erzählen. 20 Jahre nach dem Mauerfall ist es an der Zeit, sich noch einmal zu erinnern an den für uns alle so besonderen Tag im November 1989.
Lutz Marmor
NDR-Intendant
Im Herbst 1989 war er grenzenlos – der triumphierende, noch leicht ungläubige Jubel im Norden des geteilten Deutschlands. Vielen ist dies längst in Vergessenheit geraten, in Ost wie West. Geblieben ist den meisten lediglich die restliche Ahnung dieses Gefühls vom Tag, als plötzlich die Mauer fiel.
Mit Beginn des Jahres 2009 hat der Norddeutsche Rundfunk mit der trimedialen Aktion »Grenzenlos im Norden – 20 Jahre Mauerfall« seine Hörer, Zuschauer und Internet-Nutzer gebeten, sich zu erinnern, ihre ganz persönliche Geschichte von 1989 zu erzählen. Viele haben sich gemeldet, haben geschrieben, viele Geschichten wurden erzählt, im Radio, im Fernsehen und im Internet, in allen Programmen des NDR.
Eine Auswahl dieser Geschichten findet sich in diesem Buch.
Berührt haben vor allem jene leisen Erzählungen, die Jahre oder aber tatsächlich zwei Jahrzehnte gebraucht haben, um erzählt werden zu können, deren Erzähler sich selbst und ihre Erinnerungen überdacht und überprüft haben, zuweilen auch vieles heute anders sehen als vor 20 Jahren, die nichts in die Öffentlichkeit getrieben hat, die sich bislang nicht aufgedrängt haben mit ihrer Geschichte und es nun doch, zuweilen eigens ermutigt, gewagt haben, sie zu erzählen.
Das sind nicht unbedingt »Heldengeschichten«, die erzählt werden, schließlich haben die meisten Zeitzeugen sich nicht als Bürgerrechtler hervorgetan, keine Unterschriften gesammelt, keine Plakate auf Demonstrationen getragen, nicht alle waren mutig, saßen im Stasiknast, wurden freigekauft oder haben sich als Fluchthelfer betätigt, und auch eine aufregende oder spektakuläre Fluchtgeschichte haben die wenigsten vorzuweisen.
Und dennoch haben sich auffallend viele Menschen beim NDR gemeldet, die eine ganz eigene Grenzerfahrung erlebt und die Geschichte ihrer Flucht zu erzählen haben. Insofern versammelt dieses Buch besonders viele Geschichten, die von der Grenze und ihrer Überwindung erzählen. Auffällig auch: Die Geschichten in diesem Buch sind ebenso norddeutsch wie deutsch-deutsch. In den Familiengeschichten war die deutsche Teilung 1989 auch nach 40 Jahren noch nicht endgültig vollzogen. Spuren aus Ost und West ziehen sich durch die Biografien der Menschen und ihrer Familien, ein Grund, warum der 9. November 1989 sie besonders bewegt hat, warum sie sich nun 20 Jahre danach an den NDR gewandt haben.
Wie schreibt der frühere DDR-Bürgerrechtler Erhart Neubert? »Es gab keine Gewöhnung an die Grenze, sie schnitt das Naheliegende ab und versagte Raum und Zeit.«
Ich bin mir sicher: Diese literarische Reise in die Vergangenheit wird unseren gemeinsamen Weg in die Zukunft erleichtern.
Elke Haferburg
Direktorin NDR-Landesfunkhaus
Mecklenburg-Vorpommern
Vorwort
Von Erhart Neubert
In den letzten Jahren ihres Bestehens war die DDR ein isolierter Staat, abgegrenzt gegenüber dem Westen und zunehmend verlassen von ihren sozialistischen »Bruderländern«. Diese kleine, graue und enge Provinz des einst so mächtigen kommunistischen Weltsystems fiel wie ein Kartenhaus zusammen, als sich 1989 die Zungen der Menschen lösten, als sie nach Freiheit riefen und als sie mit ihren Leibern die Mauern um sie herum sprengten. Dafür steht besonders der 9. November 1989. Es gab viele wichtige Tage in der friedlichen Revolution. Aber die Nacht des Mauerfalls ist das Symbol der radikalen Veränderung, die alle Menschen betraf, die jeden Lebenslauf auf neue Bahnen stellte.
Die Diktatur und ihre Zumutungen waren fast schon zur Normalität geworden. So riefen die Leute in der denkwürdigen Nacht »Wahnsinn, Wahnsinn«. Soviel Neues konnte nicht gleich verarbeitet oder verkraftet werden. Abgrenzung und Grenzen waren über Jahrzehnte in die Menschen hineingekrochen. Wer öffentlich redete, hütete seine Zunge oder sprach die falschen Propagandalosungen nach. Misstrauen und Angst hatte die Menschen zum Schweigen gebracht. Allenfalls in den eigenen vier Wänden wurden die Erfahrungen mit dem Regime ausgetauscht. Die Revolution veränderte auch das Sprechen, das Erzählen. Am Anfang riefen die DDR-Bürger Losungen gegen die Gewalt. Bald kamen spöttische und lustige Sprüche auf, die vom neuen Selbstbewusstsein zeugten. Und die Menschen wurden von einem unabweisbaren Bedürfnis nach offenem Sprechen erfasst. In den Kirchen, auf Versammlungen, auf den Marktplätzen ergriffen sie das Wort. Vielerorts hefteten sie ihre Botschaften an Tafeln und Pinnwände.
Bei manchen sprudelten die Worte wie ein Sturzbach, dessen aufgestautes Wasser sich einen Weg sucht. Es musste heraus, all die Demütigungen, die Ungerechtigkeiten und manchmal auch die eigenen Feigheiten wollten weggespült werden. Bei anderen dauerte es viel länger. Sie brauchen bis heute Zeit, ihre Erfahrungen zu erzählen, ihre Verletzungen auszusprechen und neue Perspektiven zu gewinnen.
Der Mauerfall hatte nachhaltige politische Wirkungen. Seine heilenden Kräfte für Deutschland und für Europa wirken bis heute. Noch nie war Europa so friedlich, noch nie so geeint. Aber heilend wirkt er auch auf Menschen. Allerdings nur, wenn sie Gelegenheit haben, öffentlich über ihre Befreiung, die äußere und die innere, zu reden. Solche Gelegenheiten bot dankenswerter Weise der Norddeutsche Rundfunk mit der Aktion »Grenzenlos im Norden – 20 Jahre Mauerfall«. Die hier veröffentlichten beispielhaften Texte des Projektes zeigen das anhaltende Sprechbedürfnis. Der Leser spürt geradezu, wie die Erzähler in der neuen Wirklichkeit ankommen und sich zurechtfinden.
Die Erinnerung an das lebenswendende Ereignis des Mauerfalls hält lebendig, was die Menschen einst bedrückte, ihre Verfolgungs- und Fluchtgeschichten, ihre Erfahrungen mit Trennungen und Versagungen. Vor allem aber schwingt in den Erzählungen auch Genugtuung und manchmal der Stolz mit an, dies überwunden zu haben und neue Wege gehen zu können. Sicher ist, dass ein freies Leben ohne Mauern nicht alle Probleme löst und neue Aufgaben stellt. Aber der Mauerfall hat allen ermöglicht, sich endlich im wahrsten Sinne des Wortes freizusprechen. Dem Buch ist zu wünschen, dass es viele Leser unter der jungen Generation findet, die jetzt ihre Freiheit genießen können. Sie brauchen die Erinnerungen der Zeugen, damit auch sie die Kostbarkeit der Freiheit nacherleben können.
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