- Aristoteles
Hanah stand in einem der riesigen Gewächshäuser und jätete das Unkraut des Bodengemüses. Sie musste sich dabei nicht bücken, denn die drei mal vier Meter großen Kästen waren einen Meter tief mit Erde gefüllt.
Sie hatte Jacke und Pullover ausgezogen und ihre Schuhe steckten nicht in Fellstiefeln, sondern einfachen Sandalen. Das Thermometer zeigte zehn Grad an und fünfzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Perfekt für das Gemüse, das sie in diesem Gewächshaus anbauten. Im nächsten Haus wuchsen Früchte, die mehr Wärme benötigten. Äpfel, Birnen, Kirschen und so weiter. Und dann gab es die kleineren Treibhäuser, wo sie Bananen und andere Südfrüchte anpflanzten. Da diese jedoch geheizt werden mussten und daher mehr Energie benötigten, waren sie nicht ganz so groß wie das Haus, in dem Hanah gerade stand.
Alle Gewächshäuser standen etwas abseits der Siedlung, jedoch weithin sichtbar. Ihre Glasdächer glitzerten in der Sonne und jede Gemeinschaft hatte mehrmals im Monat Dienst.
Hanah hatte gerade keinen Dienst, und trotzdem war sie am Nachmittag zum Gewächshaus gegangen. Sie traf nur Maret an, was Hanah nicht wunderte. Diese gehörte zu einer anderen Gemeinschaft. Innerhalb einer solchen wurden die Aufgaben so verteilt, dass es jedem einigermaßen Recht war.
Maret lächelte immer wieder zu Hanah hinüber. Die Sechsunddreißigjährige hatte glattes blondes Haar, das ihr bis zu den Wangen reichte. Hanah wechselte nur selten ein Wort mit ihr. Natürlich kannte sie ihren Namen. Maret Leyla Moastian. Und sie wusste auch, dass sie sich immer wieder zur Wahl des Gemeinschaftssprechers aufstellen ließ, um in den Rat der Ältesten aufgenommen zu werden. Die Ältesten vertraten alle anfallenden Probleme und Fragen der Mitglieder einer Gemeinschaft. Sie waren so etwas wie Bürgermeister in großen Städten und versuchten, bestmögliche Lösungen zu finden. Irgendwann, in ein paar Jahren, würde Maret vielleicht sogar gewählt werden.
Hanah war froh, dass nicht mehr Leute im Gewächshaus arbeiteten. So konnte sie sich auf das Unkraut konzentrieren und ihren Gedanken nachhängen.
Es war nun beinahe neun Monate her, dass ihre Mutter Bileam geheiratet hatte. Langsam kam Hanah mit dieser neuen Situation zurecht. Sie hatte die Schule erfolgreich beendet und fand sich in den Arbeitsalltag der Erwachsenen ein.
Im Dorf wohnten etwa dreihundert Menschen. Jeder von ihnen brauchte etwas zu essen, zu trinken und ein Dach über dem Kopf. Hier, am Rande der russischen Tundra, waren die Ressourcen begrenzt. Die Treibhäuser gaben genau so viel her, dass sie nicht an Mangelerscheinungen zu leiden hatten, aber Bananen oder Mandarinen waren trotzdem kostbar.
Es war auch unmöglich, die Bedürfnisse aller dreihundert Men-schen auf einmal zu regeln, zumal hier andere Bedingungen herrschten als in anderen, wärmeren Gebieten. Die Kälte machte vieles beschwerlicher. Deshalb gab es Gemeinschaften, vier an der Zahl. In jeder Gemeinschaft lebten also um die achtzig Menschen.
Alle Aufgaben, die erledigt werden mussten, wurden im wöchentlichen Rhythmus gewechselt. Darunter fielen Jagen, Angeln, Unterrichten und sich um die Gewächshäuser kümmern. Niemand wurde von diesen Aufgaben ausgenommen, der keinen triftigen Grund hatte. Trotzdem konnten die Aufgaben innerhalb der Gemeinschaften nach Talent, Zeit oder Lust aufgeteilt werden. Deshalb gingen meistens die Männer jagen und die Frauen in die Gewächshäuser.Es gab aber auch Ausnahmen.
Jede technische Neuerung hatten die Wissenschaftler so ausgerichtet, dass sie ihnen das Leben erleichterten. Und jeder konnte selbst entscheiden, welche von ihnen er in Anspruch nahm und welche nicht. Er musste nur dafür arbeiten. Da Hanah es gewohnt war, in eher schlichten Verhältnissen zu leben, staunte sie immer wieder über die Häuser anderer. Dieses System hingegen verstand sie nicht. Wenn sie schon die Möglichkeiten hatten, warum konnte dann nicht jeder gleich ausgestattet sein?
»Auf Dauer funktioniert das nicht«, erklärte Less ihr immer wieder, »das zeigt die Geschichte. Es wird immer Menschen geben, die mehr haben als andere.«
»Aber warum können wir das nicht kontrollieren?«
»Das Problem ist die Leistung, Hanah. Was musst du tun, um ein paar von den Erneuerungen abzubekommen? Um vielleicht ein paar neue Solarzellen abzusahnen oder synthetische Socken?«
»Im Labor mitarbeiten.«
»Und viele von uns haben dafür entweder keine Zeit oder keine Lust.«
»Aber das ist doch nicht gerecht! Jeder sollte die gleichen Möglichkeiten haben.«
Auf diesen Einwand schüttelte Less immer den Kopf. »Hier hat theoretisch jeder die gleichen Möglichkeiten, aber kein System ist perfekt und solange es funktioniert und jeder einigermaßen zufrieden ist, ändert sich nichts.«
»Würdest du etwas daran ändern wollen?«
»Nein.«
Hanah hing ihren Gedanken nach. Heute hatte sie nichts mehr zu tun. Morgen würde hoffentlich jemand mit etwas Erjagtem nach Hause kommen und dann würde sie sich daran beteiligen, das Tier zu verarbeiten. Denn wer sich daran beteiligte, bekam auch etwas davon ab. Zumindest alles, was nicht Fleisch war. Das wurde ge-kühlt, was in dieser Gegend nicht gerade schwer war, und in Rationen eingeteilt. Doch vielleicht konnte Hanah morgen einen Teil des Fells oder der Haut ergattern. Sie brauchte neue Handschuhe und Leder war immer gut.
»Du siehst aus, als ob du ziemlich intensiv nachdenkst«, unterbrach Maret ihre Gedanken. Sie stand dicht neben ihr und rupfte das Unkraut aus der braunen Erde.
»Eigentlich gar nicht«, wich Hanah aus.
»Deine Mutter hat Bileam geheiratet, ist das richtig?«, fragte Maret frei heraus.
»Ja.«
»Ich kenne ihn nur flüchtig, aber ich glaube, dass er ein guter Sprecher für eure Gemeinschaft ist.«
»Ja, er macht seinen Job sehr gut. Du lässt dich auch immer wieder aufstellen.«
Maret lächelte sie freundlich an. »Richtig, aber ich denke, es braucht noch ein paar Jahre. Die Menschen vertrauen einem mehr, wenn man mit Weisheit glänzen kann.«
»Wer sagt, dass du sie nicht hast?«
Die Sechsunddreißigjährige zog ihre Augenbrauen kaum merklich zusammen. »Die anderen Ältesten sind fast alle zwanzig Jahre älter als ich. Das ist schon eine Zeit, in der man viele Erfahrungen sammelt.«
»Was kann man hier denn schon Neues lernen? Es passiert doch nichts Ungewöhnliches, man muss keine neuen Entscheidungen treffen und es bleibt immer alles beim Alten. Oder sehe ich das falsch?«
»Es sind vielleicht keine bahnbrechenden Entscheidungen, es geht meistens um Konfliktlösung, darum, einen vernünftigen Mittelweg für alle zu finden. Das ist nicht immer leicht.«
Hanah überlegte einen Moment, dann nickte sie. »Ich verstehe, dass man so etwas mit den Jahren perfektionieren kann, aber gelernt haben wir das doch alle schon.«
Wieder lächelte Maret sie mit ihren weißen Zähnen an. »Ich wünschte, ich könnte deine Sicherheit dahingehend teilen. Ich muss jetzt los, wahrscheinlich sehen wir uns dann übermorgen bei der Vollversammlung.«
»Es gibt eine Vollversammlung? Davon weiß ich noch gar nichts.«
»Doch, ganz sicher«, bestätigte Maret, »ihr bekommt die Nachricht sicher noch. Bis dann also!«
Sie zog ihre Gartenhandschuhe aus und ging den Mittelgang entlang. Das Gewächshaus war so groß, dass Hanah nicht einmal mehr hörte, wie die Tür zufiel.
Nun war sie alleine. Sie hörte ein paar Bienen summen, die hier angesiedelt wurden, da sie wichtig für die Bestäubung der Blüten waren.
Ein wenig wunderte sich Hanah über Maret. Obwohl sie beinahe doppelt so alt war, fühlte sich Hanah ihr nicht unterlegen, so wie es bei vielen anderen Erwachsenen der Fall war. Maret schien sehr feinfühlig zu sein. Und dennoch war sie nicht naiv. Sie hatte Hanah ernst genommen und trotzdem ihren eigenen Standpunkt vertreten. Diplomatisch. War das nicht genau das, was eine Gemeinschaftssprecherin brauchte?
Читать дальше