Hanah zuckte mit den Schultern. Eigentlich war das nicht ihr Problem, sie hatten ja bereits einen Sprecher. Und Bileam machte das gut. Er traf Entscheidungen, die beinahe jeder mittragen konnte. Dass es hier und dort ein paar Ausnahmen gab, konnte niemand verhindern.
Warum hatte er ihr nicht gesagt, dass eine Vollversammlung einberufen worden war? Das kam nicht sehr oft vor. Was es wohl zu besprechen gab? Schon jetzt konnte Hanah ihre Aufregung kaum noch zurückhalten. Vollversammlungen waren etwas Besonderes. Es waren Stunden, in denen ihr immer wieder bewusst wurde, dass hier mehr als nur die Leute aus ihrer Gemeinschaft lebten. Stunden, in denen ihr Horizont erweitert wurde. Manchmal traf sie dort Menschen an, die sie monatelang nicht gesehen hatte. Wie auch? Das Gelände war weitläufig, die Menschen gingen ihren Aufgaben oder Hobbies nach. Es war schwer dabei den Überblick zu behalten.
Hanah rupfte ein letztes Unkraut aus und stopfte es in den Sack neben ihr. »Man sollte doch meinen, dass Unkraut nicht wächst, wenn man kontrolliert pflanzt«, nuschelte sie vor sich hin, während sie den Sack zum Kompost schleifte und ihn schließlich darauf ausleerte. »Aber nein, Unkraut wächst einfach überall.«
Dann streifte sie die Schuhe vor dem Eingang ab, schlüpfte in ihre Stiefel, zog Pullover und Jacke an und machte sich auf den Weg nach Hause.
Sie ging mit Less zur Vollversammlung, obwohl er eigentlich gar nicht zu ihrer Gemeinschaft gehörte. Bei der Vollversammlung waren die Aufteilungen aufgehoben. Und so etwas wie eine Sitzordnung wäre ohnehin nicht möglich gewesen.
Ihre Mutter und Bileam waren schon vor zwanzig Minuten ins Labor gegangen, denn Bileam hatte noch ein paar Dinge zu regeln. Draußen fegte ein kühler Wind über die Ebene, weshalb Hanah sich die Fellkapuze tief ins Gesicht zog und schnell zu MacGrorys Häuschen hinüberlief. Dort wohnte tagsüber nur noch Less. Murray verbrachte die meiste Zeit im Labor. Es war ein schönes, geräumiges Wohnhaus, nicht eine solche Hütte wie die, in der Hanah wohnte. Es gab sogar einen zweiten Stock. Im Wohnzimmer brannte meistens ein warmes Feuer im Kamin und auf den Betten lagen echte Decken mit Daunenfedern darin.
Immer wenn Hanah dieses Haus betrat, wurde ihr bewusst, wie wenig sie selbst besaß. Sie vermisste nichts, nur war sie von weniger Luxus umgeben als Less. Das lag daran, dass MacGrory als Wissenschaftler direkt an der Quelle saß. Und er hatte dieses kleine Dorf mit aufgebaut, zu einer Zeit, in der noch nicht so viele Menschen hier gewohnt hatten.
Less öffnete. Auf seinem Gesicht spielte sich ein strahlendes Lächeln. »Ich liebe Vollversammlungen!«
»Wir sindspät dran, komm schon.« Hanna nahm seine Hand und zog ihn nach draußen. Gemeinsam liefen sie ein paar Hundert Meter weiter in die Mitte des Dorfes auf eine kleine Baumansammlung zu. Ein Baum ragte merkwürdig hoch aus den anderen auf. Es war ein alter Funkmast, der schon seit vielen hundert Jahren dort stand, jedoch nicht mehr verwendet werden konnte.
»Zerr doch nicht so. Wir sind nicht die Letzten.« Ein paar andere Leute hasteten ebenfalls zur Baumgruppe und Less zwang Hanah zu einem langsameren Schritt, bis sie die Bäume erreichten. »Warte kurz«, er begrüßte eine junge Frau, die Hanah nur flüchtig kannte. Misstrauisch beobachtete sie, wie diese herzhaft lachte. Hanah sah, dass Less drauf und dran war, eine längere Geschichte zum Besten zu geben und schritt ein. Sie ging zu ihm, lächelte der Frau kurz zu und sagte zu Less: »Tut mir leid, aber mir ist schrecklich kalt, ich geh schon rein.«
Er nickte. »Ich komm gleich nach.«
Der Mann kennt wirklich jeden, dachte sie und musste zugeben, dass sie dabei einen kleinen Stich in der Magengrube verspürte.
Am Ende der Baumgruppe befand sich eine Schiebetür im Boden. Sie war weiß wie der Schnee und öffnete sich, sobald Hanah ein paar Schritte davor stand. Hanah hörte bereits die Menschen reden, das Labor summte wie ein Bienenschwarm.
Sie ging die Stufen hinunter, etwa vier oder fünf Meter unter die Erde, dann einen Gang entlang. Normalerweise hätte sie hier eine weitere Tür passieren müssen, doch für die Vollversammlungen wurde diese geöffnet. Dann stand sie schließlich in dem riesigen Raum. Die Leute saßen bereits auf Decken auf dem Boden. Noch hatte die Versammlung nicht begonnen, alle redeten durcheinander und Hanah versuchte vergeblich in der Menge ihre Mutter zu entdecken.
Wie immer konnte die junge Frau nicht begreifen, wie all diese Leute hier unter der Erde Platz finden konnten und wie es funktionierte, dass nicht alle nach einer halben Stunde erstickten.
Sie wusste, dass für Vollversammlungen ein immenser Aufwand betrieben wurde. Zum einen, da dieser große Laborraum eigentlich voller Gerätschaften, Schreibtische, Regale und so weiter stand, die jedes Mal weggeschafft werden mussten. Zum anderen, da die zusätzliche Belüftung viel mehr Strom benötigte. Das hieß, die Wissenschaftler mussten in den nächsten Tagen Abstriche bei der Stromversorgung machen.
Immer wieder wurde vorgeschlagen, ein Versammlungshaus im freien zu bauen. Aber wenn es darum ging die Arbeit zu tun, ver-stummten diese Stimmen plötzlich.
Sie hörte Less' fröhliche Stimme hinter sich und spürte kurz darauf, wie er ihr seinen Arm um die Schultern legte.
»Komm, setzen wir uns. Wir sind wirklich spät dran«, neckte er sie und zog sie zu sich hinunter auf einen der letzten freien Plätze. Nicht eine Minute später bat Bileam um Ruhe.
Die Leute wurden langsam ruhiger und schließlich herrschte eine gebannte Stille. Bileam stand auf einem kleinen Podest am Ende des Raumes.
»Guten Morgen. Ich begrüße alle, die sich heute hier versammelt haben und ich bitte euch, die Information an diejenigen weiterzugeben, die nicht da sein können.«
Hanah sah sich um. Sie achtete nicht unbedingt darauf, wer anwesend war und wer nicht, aber einer fehlte immer und das wusste auch jeder: Ciernick Simonedes. Wahrscheinlich lag er gerade im Vollsuff in seiner Wohnung.
»Wie ihr alle wisst«, fuhr Bileam fort, »beziehen wir unsere Informationen und unser Wissen aus Daten, die wir auf den Servern hier unten gespeichert haben.«
Die Leute nickten andächtig.
»Das bezieht sich auf alle ‚alten‘ Daten. Neuigkeiten erfahren wir meistens nur durch Less. Danke übrigens dafür, Less.« Bileam deutete auf den jungen Mann an Hanahs Seite. Less grinste über beide Ohren, stand kurz auf und verbeugte sich, während die Leute ihm applaudierten.
»Angeber«, zischte Hanah ihm lächelnd zu, als er sich wieder setzte. Less grinste und Bileam sprach weiter.
»Nun ist es aber so, dass wir ab und zu ein paar neue Daten, also Informationen brauchen. Leider haben wir keine Möglichkeit, uns ans internationale Netzwerk anzuschließen und sie zu beschaffen. Ein paar von euch kennen dieses Prozedere schon. Es ist notwendig, dass sich eine Gruppe in die nächste Siedlung begibt und von dort auf das Netzwerk zugreift.«
Ein dumpfes Raunen ging durch die Menge. Hanah beobachtete Less von der Seite, er zog seine Brauen zusammen. »Das gab es das letzte Mal vor dreizehn Jahren«, flüsterte er ihr zu.
»Bevor mein Vater - «
»Ja. Ein Jahr davor.«
Nun runzelte auch Hanah die Stirn. Gab es da einen Zusammen-hang?
»Wir brauchen also ein paar Freiwillige, die sich einer kurzen Schulung unterziehen, um die Informationen beschaffen zu können, die wir brauchen.«
»Muss das heimlich geschehen?«, rief ein Mann laut und ein paar andere murrten zustimmend.
Bileam schüttelte heftig den Kopf. »Nein, wo denkt ihr hin? Natürlich bezahlen wir die anderen dafür, dass wir das Netzwerk benutzen.«
»Und wie viele Leute werden dorthin geschickt?«, rief Less.
»Sieben, maximal zehn. Aber genug, um sich gegenseitig schützen zu können.«
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