Und da Emelie und er die besonnensten und ruhigsten Menschen waren, die Niklas kannte, reagierten beide nicht so wie ihre wenigen Freunde, die noch im Norden wohnten.
»Ihr wollt jetzt noch ein Kind zur Welt bringen? Seid ihr wahnsinnig? Denkt doch daran, was ihr dem Kind antut!«
Darauf hatte Emelie immer nur nett gelächelt, über ihren runden Bauch gestrichen und gesagt: »Warum, was tun wir ihm denn an? Meint ihr wirklich, dass wir so schlechte Eltern abgeben werden?«
Sie verstand natürlich, was die anderen meinten. Aber es kümmerte sie ebensowenig wie die Unruhen in Amerika. Alle anderen hielten sie für naiv, Niklas hingegen bewunderte ihre Standhaftigkeit. Und er gab ihrer inneren Ruhe Recht.
Sollten sie aufhören, Kinder zu zeugen, nur weil es kälter wurde? Dann könnten sie gleich alles hinwerfen, denn wofür versuchte er dann so angestrengt – oder eher gemächlich – die Welt zu retten? Gewiss nicht für irgendwelche alten Säcke, die nach drei Jahren Eiszeit schon das Handtuch warfen. Kinder bedeuteten Zukunft und eine Eiszeit nicht das Ende der Welt.
Niklas versuchte seinen Freunden zu erklären, dass die Menschheit anpassungsfähig war, und dass das durch die heutigen Technologien noch schneller und effizienter vonstatten gehen konnte. Auch das verstanden sie nicht. Daraufhin zuckte er nur mit den Schultern und wünschte ihnen viel Erfolg beim Auswandern. Was die meisten wenige Monate später auch taten.
Lars Lukas Lundgren wuchs zu einem aufgeweckten kleinen Burschen heran und seine Eltern vergötterten ihn regelrecht. Zu Niklas Freude zeigte sein Sohn schon in den ersten fünf Lebensjahren Interesse an der Wissenschaft. Er liebte es herumzuexperimentieren und manchmal nahm Niklas ihn nach dem Kindergarten mit ins Büro. Lars fragte nach allem Möglichen und er verstand auch viel von dem, was sein Vater ihm erklärte. Nach bestem Wissen versuchte Niklas ihm beizubringen, wie das mit Molekülen war, mit chemischen Verbindungen und vielen anderen Dingen. Er hatte das Gefühl, dass Lars mit seinen fünf Jahren vielleicht schon mehr über das Periodensystem wusste als mancher Zehntklässler. Vor allem verstand er auch was dahintersteckte. Möglicherweise – und darauf wäre Niklas unglaublich stolz gewesen – hatte er da ein kleines Genie gezeugt, auch wenn er selbst keine solche Begabung zu haben schien. Um ein Genie zu sein, fehlte ihm das gewisse Etwas, die eine kleine Idee, der Funke.
Nichtsdestotrotz wurde es draußen immer kälter und ungemütli-cher. Die Studenten suchten sich andere Universitäten in wärmeren Ländern.
An einem sehr verschneiten Märznachmittag saß er mit Emelie auf dem Sofa. Sie strickte Socken für ihn und Lars, er selbst versuchte, einen der neuesten Artikel über die Erderkaltung zu lesen, aber er konnte sich nicht richtig konzentrieren. Im Ofen prasselte ein warmes Feuer und im Zimmer nebenan machte Lars sein Mittagsschläfchen.
Niklas sah Emelie von der Seite an. Ihr blondes Haar fiel ihr sanft über die Schulter und ihre weiße Haut wurde vom flackernden Feuerschein beleuchtet.
»Liebling, vielleicht sollten wir auch auswandern«, sagte er in die Stille hinein.
Emelie blickte ihn erstaunt an. »Warum sollten wir das tun?« In ihrer Stimme klang eine wunderbare Ruhe, ein Frieden, der Niklas lächeln ließ.
»Ich weiß, du siehst das nicht so eng, und ich bewundere das wirklich. Aber wir können nicht ewig unsere Augen vor dem Geschehen da draußen verschließen«, entgegnete er in sanftem Ton.
»Wir verschließen unsere Augen nicht, Niklas, wir sind optimis-tisch.«
»Ja, das ist eine sehr gute Eigenschaft an uns. Aber wie lange können wir noch optimistisch bleiben?«
Zwischen Emelies Augen bildete sich eine kleine Falte. Sie legte ihr Strickzeug weg und rutschte auf dem Sofa zu ihm herüber. »Schatz, gab es etwas in der Arbeit, was dich auf solche Gedanken gebracht hat?« Sie strich ihm kurz über die Wange und blickt erwartungsvoll in seine Augen.
Niklas schüttelte langsam den Kopf. »Nein … es ist nur … die allgemeine Situation. Ich weiß nicht, wie lange wir hier noch leben können, wie lange es lebenswert ist. Der Rest der Welt flieht davor und vielleicht sollten wir das auch tun. Auch damit Lars ein anderes Leben führen kann.«
»Ein anderes Leben als was, Niklas?«
Hilflos hob er die Arme und senkte sie wieder. »Gefangen im ewigen Eis … das ist doch kein lebenswertes Leben.«
»Und wer entscheidet das, Liebling? Entscheidest du nicht nach deinen Maßstäben, was ein lebenswertes Leben ist?« Emelie lächelte sanft und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
Ihre Worte legten sich wie ein Band um sein Herz. »Emelie, ir-gendwann, ich schätze in fünf bis sieben Jahren, wird die Wirtschaft und alles andere hier komplett zusammenbrechen. Keine Supermärkte mehr, keine Wasseraufbereitung, keine Schulen. Eiszeit … weißt du, was das bedeutet? Es wird kalt, sehr kalt. Viel kälter als es jetzt ist. Und es wird sich bis nach Südeuropa ausbreiten. Der Welt bleibt dann nur noch die südliche Halbkugel. Und was passiert dann, Emelie?«
Der Ausdruck in ihren Augen blieb vollkommen ruhig. »Dann gibt es einen Ansturm auf den Süden. Und dann wird es Krieg geben.«
Niklas nickte. »Ja. Deswegen will ich nicht zu den Menschen gehören, die als letzte in den Süden gehen. Weil die dann eventuell gar nicht mehr dort ankommen.«
»Dann gehen wir einfach nicht nach Süden.«
Verständnislos griff Niklas sich an den Kopf. »Du willst doch, dass Lars zur Schule gehen kann, dass er eine gute Arbeit bekommt und eine Familie gründen kann. Das willst du doch auch, oder?«
»Ja sicher, aber - «
»Nein, nichts aber. Das alles geht hier nicht mehr. Wenn wir blei-ben, verbauen wir ihm seine Zukunft. Deswegen schlage ich vor, dass wir uns darauf vorbereiten wegzuziehen. Noch zögern ein paar, das gibt uns einen Vorsprung.«
Emelie löste sich von ihm und stand auf. Sie ging vor dem Feuer auf und ab, tippte nachdenklich mit ihrem Finger an die Unterlippe. Dann blieb sie stehen und sah ihn an.
»Ich glaube, du liegst falsch, Niklas. Du vergisst gerade deine ureigensten Überzeugungen, weil du dich um Lars sorgst. Das ist in Ordnung, ich verstehe das vollkommen. Aber vielleicht … vielleicht solltest du dich darauf besinnen, was du wirklich denkst und was du schon immer zu mir gesagt hast.«
»Ich verstehe nicht, was - «
»Der Mensch ist dazu fähig, sich anzupassen«¸ unterbrach sie ihn, »er kann es, Niklas!« Sie lächelte ihn optimistisch an. »Neun Milliarden Menschen, Niklas. Neun Milliarden Menschen auf der Südhalbkugel. Was passiert mit den vielen Leuten?«
Er zuckte mit den Schultern. »Naja, sie müssen sich eben … arrangieren.«
»Du weißt, was das bedeutet. Willst du ein Leben für Lars, in dem er sich arrangieren muss?«
»Nein.«
Sie kam wieder zu ihm hinüber auf das Sofa und nahm seine Hand. »Bereiten wir uns doch lieber darauf vor, hier zurecht zu kommen. Egal wie kalt es wird.«
»Liebling, das könnte schwierig werden.«
»Nicht schwieriger, als ein neues Leben auf einem fernen Kontinent anzufangen, oder? Sieh’s mal so: Wir kennen dieses Land, wir kennen seine Tücken. Wir wissen, wie man hier für etwas zu essen sorgt und wir kennen unsere Ressourcen.«
Nun musste Niklas lächeln. Emelie brachte ihn immer wieder zu seinen Wurzeln zurück.
»Dann sind wir Aussteiger, ganz offiziell, sobald hier keiner mehr wohnen will.«
Sie gab ihm einen Kuss auf den Mund. »Nein Niklas, wir bleiben einfach nur hier.«
Das Herrschen und Beherrschtwerden überhaupt, gehört nicht nur unter die notwendigen, sondern auch unter die nützlichen Dinge. Ebenso unleugbar ist es, daß zwischen gewissen Dingen schon von ihrer Entstehung an sich ein solcher Unterschied findet, wodurch die einen zur Regierung, die anderen zur Abhängigkeit bestimmt werden.
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