Erschrocken unterbricht Raban ihn: »Das tut mir wirklich sehr leid.« Vorsichtig streicht er über den Kopf des Vogels.
Nach einem leisen Seufzer fährt dieser fort:
»Meine Mutter hatte nach unserem Ausbrüten viel mit uns Kindern zu tun. Sie schaffte es aber nicht, mich und meine Geschwister großzuziehen. Sie mühte sich sehr ab und war von morgens bis spät in der Nacht unterwegs. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass die beiden Jüngsten noch vor ihrem ersten Federwechsel starben. Mein Bruder verunglückte später bei seinem ersten Flug. Sein Gefieder war noch nicht ausreichend ausgebildet. Er stürzte ab und krachte auf den harten Boden. Das war sehr schlimm.« Er macht eine Pause, dann fährt er etwas kräftiger fort: »Meine Mutter brachte mir nachts die ersten Zauber bei, damit meine Chancen besser sein würden, in der Zukunft zu überleben. Sie verausgabte sich durch die notwendige Nahrungsbeschaffung und die nächtlichen Unterweisungen aber zu sehr. Eines Tages erspähte sie ein totes Kaninchen. Das hätte für den ganzen Tag gereicht. Als sie sich bereits dem toten Tier näherte, kam es zu einer Auseinandersetzung mit einer Elster, die ebenfalls die Nahrung haben wollte. Sehr schnell kamen vier weitere dazu. Verfluchtes Pack. Elendes Gesindel. Gegen eine hätte Mutter nie verloren, aber so? Sie hat unzählige Schnabelhiebe abbekommen und Federn verloren. Ein paar Mal fuhren die Krallen dieser unehrenhaften Lumpen sogar in ihren Körper. Saubande! Sie schaffte es noch bis zum Nest. In der Nacht starb sie, nachdem sie mir ihr ganzes Wissen über Zauber übertragen hatte.«
Raban wagt die eingetretene Stille nicht zu unterbrechen, er streicht dem schwarzen Vogel aber fortwährend über das Gefieder. Nach langer Zeit räuspert sich der Rabe.
»Ich konnte damals schon etwas fliegen, auch wenn die Strecken noch nicht besonders groß waren. Meine Jugend verlief damit, Futter zu bekommen und meine Magie zu üben. Ich schloss mich keinem Trupp anderer Raben an. Sie hätten meine Zauberei bemerken können. Einige Angriffe von Krähen, die immer in großer Zahl gemeinsam vorgehen, konnte ich durch meine Zauberei abwehren. Sie meinten, einen großen Verband junger Raben vor sich zu haben. Also drehten sie ab und verschwanden.«
»Röiven, deine Kindheit und Jugend waren wirklich schlimm. Die Einsamkeit muss unerträglich gewesen sein. Redest du darum so gerne, um dich von Gedanken an deine Familie abzulenken?«
»Das mag schon sein, aber ich hatte eigentlich auch noch nie viele … Na ja, genau genommen nicht einmal einen Freund.«
»Verzeih mir bitte meine Worte von vorhin. Ich war dumm!«
»An die von dir genannten Worte kann ich mich nicht erinnern. Hattest du etwas Böses gesagt?«
»Jetzt ist das aber ein Grinsen, was ich sehe«, denkt der Junge.
»Ja. Ich bin dir nicht böse!«, knarzt es.
»Ups. Du hörst ja meine Gedanken. Das habe ich glatt vergessen. Danke! Freunde?«
»Freunde!«, bestätigt der Vogel.
Während ihrer Unterhaltung ist Raban mit dem Kolkraben auf den Armen aus dem Dorf zum nächsten Wäldchen gewandert. Dies ist die Richtung, die ihn zu seinem Großvater führt. Sobald die Bäume und Büsche die Sicht auf ihn nehmen, bleibt er stehen.
»Wohin wollen wir jetzt? Schauen wir im Park von Coimhead nach, ob wir dort etwas herausfinden können? Vielleicht gibt es dort noch einen lebenden Kolkraben, den wir befragen könnten.« Der Junge blickt den Vogel an.
Dieser nickt und knarzt: »Portaro«.
Die Büsche und Bäume beginnen sich zu verwischen. Es flimmert kurz.
Als das Gleißen aufhört, steht Raban in einem großen Park. Aber er ist allein. Wo ist sein Begleiter, den er gerade noch seinen Freund genannt hat.
»Ist wieder etwas schief gegangen?«, grübelt der Junge. Seine Augen suchen beunruhigt den Park ab.
»Was machst du denn hier, Junge?«, vernimmt er eine knarrende Stimme hinter seinem Rücken. Im ersten Moment glaubt er den Kolkraben zu hören. Doch das typische Knarzen fehlt.
Er dreht sich um. Ein alter Mann mit grauem Bart kommt auf ihn zu.
»Es sind doch Ferien und das Internat ist geschlossen.« Nach einem Blick auf den Rucksack und das zusammengerollte Zelt fügt er hinzu: »Das Zelten ist hier aber verboten!« Dabei droht er mit einem Finger. Das Gesicht lächelt dem Knaben aber freundlich entgegen.
»Äh, nein. Ich will hier nicht zelten. Ich habe gestern etwas Unglaubliches in der Zeitung gelesen. Wurden hier wirklich 25 tote Raben aufgefunden? Ich wollte versuchen, ob ich etwas über die Ursache herausfinden kann.«
»Die toten Vögel sind bereits in der Universität. Sie werden dort mit allen wissenschaftlichen Mitteln untersucht. Es waren Jungvögel, die sich hier in den letzten Tagen aufgehalten hatten. Sie spielten wie kleine Kinder, balgten miteinander und ließen sich dort den kleinen Abhang hinunterrollen. Es ist traurig, aber wahr. Gestern morgen lagen sie tot unter diesem Baum.« Er deutet auf einen ehrwürdig wirkenden, großen Mammutbaum, der zentral im Park steht. »Jetzt ist es hier völlig ruhig. Alle Vögel scheinen diesen Ort des Todes verlassen zu haben.«
»Darf ich mich etwas umsehen? Ich finde es seltsam. Die alten Eichen, Buchen oder auch Rosskastanien eignen sich für große Vögel doch besser zum Schlafen als der Mammutbaum. Warum lagen sie dann alle dort? Wirkte das irgendwie angeordnet? Ich meine, lagen sie nebeneinander aufgereiht?«
»Nein. Sie lagen verstreut unter dem Baum, als ob sie aus den Zweigen nach unten gestürzt wären. Du darfst dich gerne umsehen. Ich muss nur mal kurz nach meinen Hühnern schauen. Sie klingen sehr aufgeregt.«
Der Gärtner, denn das ist er, dreht sich um und geht auf den hinteren Teil der Parkanlage zu. Dort duckt sich ein kleines Backsteingebäude mit niedrigem Dach. Aus dessen Schornstein ringelt sich eine feine Rauchfahne in den Himmel hinauf. Das Haus ist von einem kleinen Garten umgeben, in dem der Alte etwas Gemüse für den Eigenbedarf anbaut. In einem eingezäunten Hof laufen aufgeschreckt viele große, braune Hühner und zwei Hähne.
»Das gibt es doch nicht. Komm schnell mal her!«, ruft der Gärtner Raban zu sich. Als der Junge näher kommt, hört er eine ihm bekannte, krächzende Stimme keuchen:
»Ich schaff es doch. Ich schaff es, au… Auf ein Neues. Ich muss es schaffen … Oh, hallo Raban. Hilfst du mir bitte?«
Der Junge steht vor dem eingezäunten Viereck. Er versteht, warum der alte Mann glaubt, seinen Augen nicht trauen zu können. Jetzt fragt dieser:
»Wie ist denn so was möglich? Ein Rabe mit Flügelverband versucht aus meinem Hühnerhof zu entkommen, indem er sich mit seinem Schnabel am Gitter hochzieht und sich dann mit den Krallen in der Höhe zu halten versucht.«
»Entschuldigung, das ist mein Kolkrabe. Ich pflege ihn gesund und trage ihn sonst immer bei mir. Da er aber ziemlich schwer ist – « »Entschuldige bitte, Röiven. Mir fiel so schnell keine bessere Ausrede ein«, fügt er in Gedanken hinzu. „– habe ich ihn hier zwischengeparkt, während ich mich umsehen wollte. Ich liebe Fithich, ähem Raben, sehr. Darum bin ich auch über die Zeitungsmeldung so beunruhigt.«
Der Mann schaut den Jungen forschend an, dann lächelt er.
»Da hättest du mich besser vorher gefragt. Wie du siehst, haben die Hühner Angst vor ihm und er will offenbar auch zu gern wieder hinaus. Gut so. Jetzt werden sie sich bald beruhigen.«
Raban hält Röiven bereits auf seinem Arm.
»Ich wollte ihre Hühner nicht aufregen, tut mir Leid.«
»Es ist ja nichts passiert. Du solltest den Vogel aber doch besser zu deinen Untersuchungen mitnehmen. Ich muss jetzt weiterarbeiten. Vielleicht bis später.«
»Danke, das mache ich.«
Sie trennen sich.
»Was ist denn passiert, Röiven? Ich stand allein im Park und du bist zwischen den Hühnern gelandet?«
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