Bernhard Kellermann - Der Tunnel

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Der Tunnel ist das bedeutendste Buch des Schriftstellers Bernhard Kellermann. Es erschien im April 1913 im S. Fischer Verlag, Berlin. Bereits nach einem halben Jahr waren 100.000 Exemplare verkauft; das Werk wurde zu einem der erfolgreichsten Bücher der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bis 1939 erreichte es eine Gesamtauflage in Millionenhöhe.
Kellermann rezipiert in dem Roman die technikbegeisterte Einstellung seiner Epoche. So will der Ingenieur Allan, genannt Mac, innerhalb von wenigen Jahren einen Tunnel am Grunde des Atlantiks von Amerika nach Europa bauen. Die Zeit scheint reif, Technologien bis ins Unendliche auszureizen. Wie so oft, droht der Traum des Ingenieurs aus finanziellen Gründen zu scheitern; mehrere Katastrophen erfährt der Tunnelbau unter dem Ozean. Das Fiasko scheint unabwendbar, als auch die Arbeiterheere rebellieren. Der Held Allan wird zu einem der meistgehassten Menschen des Planeten.

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Der Tunnel

Bernhard Kellermann

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

Zweiter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Dritter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

Vierter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

Fünfter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

Sechster Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Schluß

Impressum

Erster Teil

1.

Das Einweihungskonzert des neuerbauten Madison-Square-Palastes bildete den Höhepunkt der Saison. Es war eines der außerordentlichsten Konzerte aller Zeiten. Das Orchester umfaßte zweihundertundzwanzig Musiker, und jedes einzelne Instrument war mit einem Künstler von Weltruf besetzt. Als Dirigent war der gefeiertste lebende Komponist, ein Deutscher, gewonnen worden, der für den einen Abend das unerhörte Honorar von sechstausend Dollar erhielt.

Die Eintrittspreise verblüfften selbst New York. Unter dreißig Dollar war kein Platz zu haben, und die Billettspekulanten hatten die Preise für eine Loge bis auf zweihundert Dollar und höher getrieben. Wer irgendwie etwas sein wollte, durfte nicht fehlen.

Um acht Uhr abends waren 26., 27. und 28. Straße und Madison Avenue von knatternden, ungeduldig bebenden Automobilen blockiert. Die Billetthändler, die ihr Leben zwischen den Pneumatiken von sausenden Automobilen verbringen, stürzten sich, schweißtriefend trotz einer Temperatur von zwölf Grad Kälte, Bündel von Dollarscheinen in den Händen, tollkühn mitten in den endlos heranrollenden Strom wütend donnernder Wagen. Sie schwangen sich auf die Trittbretter, Führersitze und selbst Dächer der Cars und versuchten das Schnellfeuer der Motoren mit ihren heiser heulenden Stimmen zu überbrüllen. „Here you are! Here you are! Zwei Parkettsitze, zehnte Reihe! Ein Logenplatz! Zwei Parkettsitze ...!!“ Ein schräger Hagel von Eiskörnern fegte wie Maschinengewehrfeuer auf die Straße nieder.

Sobald ein Wagenfenster klappte — „Hierher!“ — warfen sie sich blitzschnell wie Taucher wieder zwischen die Wagen. Während sie aber ihr Geschäft abschlossen, Geld in die Taschen stopften, gefroren ihnen die Schweißtropfen auf der Stirn.

Das Konzert sollte um acht Uhr beginnen, aber noch ein Viertel nach acht warteten unabsehbare Reihen von Wagen darauf, bei dem in Nässe und Licht schreiend rot leuchtenden Baldachin vorzufahren, der in das blitzende Foyer des Konzertpalastes hineinführte. Unter dem Lärm der Billetthändler, dem Knattern der Motoren und Trommeln der Eiskörner auf dem Baldachin quollen aus den einander blitzschnell ablösenden Cars immer neue Menschenbündel hervor, von den dunkeln Mauern der Neugierigen mit stets neuer Spannung erwartet: kostbare Pelze, ein funkelndes Haargebäude, aufsprühende Steine, ein seideglänzender Schenkel, ein entzückender weißbeschuhter Fuß, Lachen, kleine Schreie ...

Der Reichtum der fünften Avenue, Bostons, Philadelphias, Buffalos, Chikagos füllte den pompösen, in Lachsrot und Gold gehaltenen überhitzten Riesensaal, der während des ganzen Konzerts von Tausenden von hastig bewegten Fächern vibrierte. Aus all den weißen Schultern und Büsten der Frauen stieg eine Wolke betäubender Parfüme empor, zuweilen ganz unvermittelt von dem nüchternen und trivialen Geruch von Lack, Gips und Ölfarbe durchsetzt, der dem neuen Raum anhaftete. Scharen und Aberscharen von Glühlampen blendeten aus den Kassetten der Decke und Emporen über den Raum, so gleißend und grell, daß nur starke und gesunde Menschen die Lichtflut ertragen konnten. Die Pariser Modekünstler hatten für diesen Winter kleine venezianische Häubchen lanciert, die die Damen auf den Frisuren, etwas nach hinten gerückt, trugen. Gespinste, Spinngewebe aus Spitzen, Silber, Gold, mit Borden, Quasten, Gehängsel aus den kostbarsten Materialien, Perlen und Diamanten. Da aber die Fächer unausgesetzt vibrierten und die Köpfe stets in leichter Bewegung waren, so glitt fortwährend ein Glitzern und Flimmern über das dichtgedrängte Parkett, und hundertfach sprühten gleichzeitig an verschiedenen Stellen die Feuer der Brillanten auf.

Über diese Gesellschaft, ebenso neu und prunkvoll wie der Konzertsaal, fegte die Musik der alten, längst vermoderten Meister dahin ...

Der Ingenieur Mac Allan hatte mit seiner jungen Frau, Maud, eine kleine Loge dicht über dem Orchester inne. Hobby, sein Freund, der Erbauer des neuen Madison-Square-Palastes, hatte sie ihm zur Verfügung gestellt und Allan kostete diese Loge keinen Cent. Er war zudem nicht aus Buffalo, wo er eine Fabrik für Werkzeugstahl besaß, hierhergekommen, um Musik zu hören, für die er gar kein Verständnis hatte, sondern um eine zehn Minuten lange Unterredung mit dem Eisenbahnmagnaten und Bankier Lloyd, dem mächtigsten Mann der Vereinigten Staaten und einem der reichsten Männer der Welt, zu führen. Eine Unterredung, die für ihn von der allergrößten Bedeutung war.

Am Nachmittag, im Zuge, hatte Allan vergebens gegen eine leichte Erregung gekämpft, und noch vor wenigen Minuten, als er sich durch einen Blick überzeugte, daß die Loge gegenüber, Lloyds Loge, noch leer war, hatte ihn die gleiche sonderbare Unruhe angefallen. Nun aber sah er den Dingen wieder mit vollkommener Ruhe entgegen.

Lloyd war nicht da. Lloyd kam vielleicht überhaupt nicht. Und selbst wenn er kam, so war damit noch nichts entschieden — trotz Hobbys triumphierender Depesche!

Allan saß da, wie ein Mann, der wartet und die nötige Geduld dazu hat. Er lag in seinem Sessel, die breiten Schultern gegen die Lehne gedrückt, die Füße ausgestreckt, so gut es in der Loge ging, und sah mit ruhigen Augen umher. Allan war nicht gerade groß, aber breit und stark gebaut wie ein Boxer. Sein Schädel war mächtig, mehr viereckig als lang, und die Farbe seines etwas derben bartlosen Gesichts ungewöhnlich dunkel. Selbst jetzt im Winter zeigten seine Backen Spuren von Sommersprossen. Wie alle Welt trug er das Haar sorgfältig gescheitelt; es war braun, weich und schimmerte an den Reflexen kupferfarben. Allans Augen lagen verschanzt hinter starken Stirnknochen; sie waren licht, blaugrau und von gutmütig kindlichem Ausdruck. Im ganzen sah Allan aus wie ein Schiffsoffizier, der gerade von der Fahrt kam, vollgepumpt mit frischer Luft, und heute zufällig einen Frack trug, der nicht recht zu ihm paßte. Wie ein gesunder, etwas brutaler und doch gutmütiger Mensch, nicht unintelligent, aber keineswegs bedeutend.

Allan vertrieb sich die Zeit, so gut er konnte. Die Musik hatte keine Macht über ihn und anstatt seine Gedanken zu konzentrieren und zu vertiefen, zerstreute und verflüchtigte sie sie. Er maß mit den Blicken die Dimensionen des ungeheuren Saales aus, dessen Decken- und Logenringkonstruktion er bewunderte. Er überflog das flimmernde, vibrierende Fächermeer im Parkett und dachte, daß „viel Geld in den Staaten sei und man hier so etwas unternehmen könne, wie er es im Kopf hatte“. Als praktisch veranlagter Mensch unternahm er es, die stündlichen Beleuchtungskosten des Konzertpalastes abzuschätzen. Er einigte sich auf rund tausend Dollar und verlegte sich hierauf auf das Studium einzelner Männerköpfe. Frauen interessierten ihn gar nicht. Dann streifte sein Blick wiederum die leere Loge Lloyds und tauchte in das Orchester hinab, dessen rechten Flügel er übersehen konnte. Wie alle Menschen, die nichts von Musik verstehen, verblüffte ihn die maschinelle Exaktheit, mit der das Orchester arbeitete. Er rückte ein wenig vor, um den Dirigenten zu sehen, dessen stabführende Hand und dessen Arm nur zuweilen über der Brüstung erschienen. Dieser hagere, schmalschulterige, distinguierte Gentleman, dem sie für diesen Abend sechstausend Dollar bezahlten, war Allan vollends ein Rätsel. Er beobachtete ihn lange und aufmerksam. Schon das Äußere dieses Mannes war ungewöhnlich. Sein Kopf, mit der Hakennase, den kleinen, lebendigen Augen, dem zusammengekniffenen Mund und den dünnen, nach rückwärts stehenden Haaren erinnerte an den eines Geiers. Er schien nur Haut und Knochen zu sein und nichts als Nerven. Aber er stand ruhig inmitten des Chaos von Stimmen und Lärm und ordnete es nach Belieben mit einem Wink seiner weißen, anscheinend kraftlosen Hände. Allan bewunderte ihn, etwa wie einen Zauberer, in dessen Macht und Geheimnisse einzudringen er nicht einmal den Versuch machte. Dieser Mann schien ihm einer fernen Zeit und einer sonderbaren, unverständlichen, fremden Rasse anzugehören, die dem Aussterben nahe war.

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